Wer jetzig Zeiten leben will,
Muß hab’n ein tapfers Herze,
Es sein der argen Feind so viel,
Bereiten ihm groß Schmerze.
Da heißt es stehn ganz unverzagt
In seiner blanken Wehre,
Daß sich der Feind nicht an uns wagt,
Es geht um Gut und Ehre.
Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme
Geld nur regiert die ganze Welt,
Dazu verhilft Betrügen;
Wer sich sonst noch so redlich hält,
Muß doch bald unterliegen,
Rechtschaffen hin, rechtschaffen her,
Das sind nur alte Geigen:
Betrug, Gewalt und List vielmehr,
Klag du, man wird dir’s zeigen.
Doch wie’s auch kommt, das arge Spiel,
Behalt ein tapfers Herze,
Und sind der Feind auch noch so viel,
Verzage nicht im Schmerze.
Steh gottgetreulich, unverzagt,
In deiner blanken Wehre:
Wenn sich der Feind auch an uns wagt,
Es geht um Gut und Ehre!
Text und Melodie: unbekannt 16. oder 17. Jahrhundert (unterschiedliche Angaben in verschiedenen Liederbüchern)
Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Tobias Widmaier: Wer jetzig Zeiten leben will (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/wer_jetzig_zeiten_leben_will/
Das sozialkritische Lied „Wer jetzig Zeiten leben will“ ist 1876 zuerst von Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth veröffentlicht worden. Der Liedforscher entnahm es einem handschriftlichen, heute verschollenen Liederbuch aus adligem Besitz, dessen Entstehung er grob aufs 17. Jahrhundert datierte und das er einem privaten, „sehr gebildeten“ Zirkel zuordnete. Aus der Zeit vor 1876 findet sich ansonsten kein weiterer Beleg für das Lied. Nach einer erneuten Tradierungslücke erschien es 1913 in einer textlich gestrafften Fassung, die in der Folge von Liederbüchern der Jugendbewegung aufgegriffen wurde. Als Lied, in dem sich „deutsche Standhaftigkeit und Wehrbereitschaft“ bekunde, erfreute sich „Wer jetzig Zeiten leben will“ im Dritten Reich großer Beliebtheit. Im Gegensatz dazu fasste man „Wer jetzig Zeiten leben will“ in den 1970er und 1980er Jahren als „Volkslied demokratischen Charakters“ auf.
I. Erstmals veröffentlicht wurde „Wer jetzig Zeiten leben will“ in der 1876 von Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth herausgegebenen Sammlung „Einhundert unedierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihren zweistimmigen Singweisen“ (Edition A). Hier teilte der namhafte Liedforscher – neben 67 Liedern, die er aus kontrapunktisch gesetzten Vokalwerken des Komponisten Jakob Regnart (1540/45–1599) ‚rekonstruierte‘ – 33 weitere Lieder aus einem handschriftlichen Liederbuch mit, das ihm 1834 Baron von Truchseß zu Wetzhausen überlassen hatte. Über den Verbleib dieses seinerzeit bereits „sehr defect[en]“ Liederbuchs ist nichts bekannt. Die „ungewöhnlichen musikalisch-poetischen Sinn“ verratenden Lieder seien, wie Ditfurth vermutete, „mehrentheils von Wenigen eines sehr gebildeten Kreises gefertigt“ worden und „gar nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt“ gewesen. Dieser undatierten, dem 17. Jahrhundert zugeordneten privaten Liedsammlung entnahm Ditfurth auch „Wer jetzig Zeiten leben will“. Die Melodie war im Liederbuch des Truchseß zu Wetzhausen mit beziffertem Bass versehenen. Ditfurth fügte in seiner Edition aber keine Instrumentalbegleitung, sondern eine zweite Stimme „nach Art des Volkes“ hinzu, eine Maßnahme, mit der er hoffte, auch diesem bis dahin unbekannten Lied zu „neuem Leben“ zu verhelfen. Da weitere Belege für „Wer jetzig Zeiten leben will“ aus der Zeit vor 1876 nicht überliefert sind, ist die Quellenangabe „altes fliegendes Blatt“ o. ä., die sich in einer Reihe von Liederbüchern des 20. Jahrhunderts findet, aus der Luft gegriffen.
II. In dem Lied „Wer jetzig Zeiten leben will“ werden Missstände beklagt, die einen an überkommenen Werten festhaltenden Personenkreis bedrücken: Zum einen regiere „Geld nur […] die ganze Welt“, zum anderen hätten Recht und Gesetz an Bedeutung verloren. In diesem „argen Spiel“ von „Betrug, Gewalt und List“ gelte es, nicht zu verzagen, sondern „gottgetreulich“ und mit tapferem Herz „um Gut und Ehre“ zu kämpfen. Aufgrund der Provenienz des handschriftlichen Liederbuchs aus dem Besitz der Adelsfamilie von Truchseß zu Wetzhausen scheint es denkbar (und naheliegend), dass das Lied die Befindlichkeit von Angehörigen dieses unterfränkischen, schon im Mittelalter nachgewiesenen Rittergeschlechts zum Ausdruck brachte. Politische Veränderungen (erlebt als Beschneidung alter Rechte und Privilegien) und die zunehmende ökonomische Macht des Bürgertums wurden als Bedrohungen empfunden, denen man in „blanker Wehre“ entgegenzutreten schwor. Das Lied enthält eine konkrete zeitgeschichtliche Bezugnahme: Zu den Mächten, die „itzt Gewalten“ hätten, zählt Str. 2 den „Kipper“, eine Bezeichnung für Personen, die unterwertige Münzen in Umlauf brachten. Der Ausdruck verweist auf die drei durch eine massive Geldentwertung gekennzeichneten sog. „Kipper- und Wipperperioden“ des 17. und frühen 18. Jahrhunderts (1618–23, 1659–67, 1680–1710; vgl. Rainer Gömmel 1998). Möglicherweise ist „Wer jetzig Zeiten leben will“ aber auch erst im Lauf des 18. Jahrhunderts entstanden, worauf musikalische Indizien (Ameln 1932/33) ebenso deuten wie der Umstand, dass einige der Nummern, die Ditfurth aus der gleichen Handschrift edierte, zweifellos nur aus dieser Zeit stammen können, etwa das mit einer ländlerhaften Weise versehene Lied „Hansel, dein Gretelein, / Ist ein fauls Schlamperlein“ (Erk/Böhme 1893, Bd. 2, Nr. 836).
III. Ditfurths Hoffnung, seine 1876 präsentierten Liedentdeckungen würden ins breitere Singrepertoire eingehen, erfüllte sich nur im Fall von „Wer jetzig Zeiten leben will“ – allerdings mit Verzögerung: Nach einer erneuten Tradierungslücke wurde das Lied erst 1913 in „Carl Clewing’s Liederbuch“ ein zweites Mal veröffentlicht. Dabei verkürzte Clewing den Text des Ditfurths Sammlung entnommenen „herrlichen Trutzliedes“ durch Streichung zweier Halbstrophen auf drei Strophen, die in der Folgeüberlieferung Standard blieben (dass dabei auch die den „Kipper“ als Widersacher nennende Verszeile unter den Tisch fiel, erleichterte die Transformierung in ein Lied scheinbar zeitloser Gültigkeit). Clewing versah das Lied mit der Überschrift „Tapfers Herze“ und fügte eine Lauten- bzw. Klavierbegleitung hinzu (Edition B). Nunmehr fand das Lied tatsächlich zunehmend Verbreitung. So erschien kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs eine Sammlung von Kriegsliedern für Schulen unter dem Titel „Tapfers Herze“ (Dresden 1914), in der „Wer jetzig Zeiten leben will“ die erste Nummer bildete – und dies „nicht ohne Grund“, wie das Vorwort im Stil des Liedtextes erklärte: „Trutzig ernst ist die Stunde, und wer ihrer leben will, muß haben tapfers Herze.“ Nach dem Ersten Weltkrieg wurde „Wer jetzig Zeiten leben will“ von verschiedenen Liederbüchern der Jugendbewegung aufgegriffen. Großer Popularität erfreute sich das Lied im Dritten Reich. Zwischen Hitlers Machtergreifung und Ende des Zweiten Weltkrieges wurde es unzählige Male publiziert. Eine Liedflugschrift für den Nürnberger Parteitag der NSDAP 1934 (Edition C) stellte das Lied ebenso prominent heraus wie etwa das Chorbuch „Wer jetzig Zeiten leben will“ (1940), dessen Herausgeber Hans Fischer einleitend bemerkte: „Das Lied von deutscher Standhaftigkeit und Wehrbereitschaft – wie oft haben wir es in den letzten Jahren gesungen – erweckt in diesen Zeiten der Bewährung doppelt lebendigen Widerhall in unseren Herzen […] Wenn es jetzt dieser im großdeutschen Freiheitskampf entstandenen Chorsammlung den Titel gibt, mag es uns voranleuchten auf dem Wege zum Siege: ‚Daß sich der Feind nicht an uns wagt, es geht um Gut und Ehre‘.“ Trotz der massiven nationalsozialistischen Indienstnahme wurde das Lied gleichzeitig auch in oppositionellen Kreisen gepflegt (s. Tigges/Föster 2003; Günther Noll 2006).
IV. Unter Ausblendung seiner bisherigen Rezeptionsgeschichte wurde „Wer jetzig Zeiten leben will“ nach 1945 als vermeintlich althergebrachtes Liederbe u. a. in Liederbüchern für den Gebrauch konfessioneller Jugendgruppen weiter tradiert. In den 1970er Jahren entdeckte die deutsche Folkszene das Lied. Ausgehend von Tom Kannmachers und Jürgen Schöntges‘ LP „Wer jetzig Zeiten leben will“ (1975) nahmen auch andere damals bekannte Gruppen wie „Fiedel Michel“ („Live“ 1976) und „Espe“ („Wo soll ich mich hinkehren“ 1977) das Lied in ihr Repertoire. Auf diesem Weg verband sich das Lied mit den neuen sozialen Bewegungen und fand beispielsweise auch Aufnahme in ein Friedensliederbuch, das in den Jahren der Proteste gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss mehrfach aufgelegt wurde (Edition D). Unter der Rubrik „Widerstand“ erschien 1980 eine aktualitätsbezogene Umarbeitung des Liedes in „lieder zur sonne zur freiheit“, einer Liedersammlung aus der Anti-Atomkraft- und Umweltschutzbewegung (Edition E). Entsprechend deutete man „Wer jetzig Zeiten leben will“ nun als ein „Volkslied demokratischen Charakters“ (Karl Adamek 1987). Dennoch ist dieses Lied bis in die Gegenwart nicht aufs „linke“ Milieu begrenzt: Auf der ersten sog. Schulhof-CD der NPD („Anpassung ist Feigheit. Lieder aus dem Untergrund“, 2004) ist „Wer jetzig Zeiten leben will“ in einer Version der Rechtsrockgruppe „Spirit of 88“ zu hören.
TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(September 2010)
Literatur
- Edgar Neis: Politisch-soziale Zeitgedichte. Hollfeld 1971 (Interpretationen motivgleicher Gedichte in Themengruppen 2), S. 13–15.
- Hans Fischer: Wer jetzig Zeiten leben will. Chorbuch für Sopran, Alt und Bariton. Berlin-Lichterfelde 1940 (Zitat aus Vorwort).
- A. [= Konrad Ameln]: Wer jetzig Zeiten leben will. In: Die Singgemeinde 9 (1932/33), S. 57 (Rubrik „Kleine Beiträge“).
- Tapfers Herze. Alte und neue Kriegslieder für Schulen. Hrsg. vom Dresdner GesanglehrerVerein. Dresden 1914 (Zitat aus Vorwort).
Weiterführende Literatur
- Günther Noll: Wilhelm Schepping – Leben und Werk. In: Musik als Kunst, Wissenschaft, Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Günther Noll u.a. Münster 2006, S. 13–85 (auf S. 35 wird „Wer jetzig Zeiten leben will“ den „kritischen Liedern der katholischen Jugend“ während der NS-Zeit zugerechnet).
- Paul Tigges, Karl Föster: Katholische Jugend in den Händen der Gestapo. Widerstand im westfälischen Raum gegen das totalitäre NS-System. Es gab nicht nur die Weiße Rose. Olsberg 2003, S. 45.
- Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800. München 1998 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 46), S. 51f.
- Karl Adamek: Politisches Lied heute. Zur Soziologie des Singens von Arbeiterliedern. Empirischer Beitrag mit Bildern und Noten. Essen 1987 (Schriften des Fritz-Hüser-Instituts für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur der Stadt Dortmund, Reihe 2: Forschungen zur Arbeiterliteratur 4); Zitat S. 214.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: eine Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung (1928)
- Gedruckte Quellen: sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern
- Bild-Quellen: —
- Tondokumente: selten auf Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.
© Deutsches Volksliedarchiv
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