Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht

Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht,
Fürsten in Lumpen und Loden,
Ziehn wir dahin bis das Herze uns steht,
Ehrlos bis unter den Boden.
Fidel Gewand in farbiger Pracht
Trefft keinen Zeisig ihr bunter,
Ob uns auch Speier und Spötter verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Ziehn wir dahin durch Braus und durch Brand,
Klopfen bei Veit und Velten.
Huldiges Herze und helfende Hand
Sind ja so selten, so selten.
Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß
Immer nur hurtig und munter;
Ob uns der eigene Bruder vergaß,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Aber da draußen am Wegesrand,
Dort bei dem König der Dornen,
Klingen die Fiedeln ins weite Land,
Klagen dem Herrn unser Carmen.
Und der Gekrönte sendet im Tau
Tröstende Tränen herunter.
Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau,
Uns geht die Sonne nicht unter!

Bleibt auch dereinst das Herz uns stehn
Niemand wird Tränen uns weinen.
Leis wird der Sturmwind sein Klagelied wehn
Trüber die Sonne wird scheinen.
Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht,
Zügellos drüber und drunter.
Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.
(Die 4. Strophe taucht erst nach 1945 in Liederbüchern auf.)

Text und Melodie: Fritz Sotke 1927/28 – (1902-1970)

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte von Wolfgang Lindner: „Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität – Die mentalitätsgeschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte“ – Schriften zur Kulturwissenschaft, Hamburg 2003
http://www.verlagdrkovac.de/volltexte/0886/9._Jugendleben_als_Wander-‚Bewegung‘.pdf

3.1.2.2 Wandern als Selbstbehauptung

Trotzig-pubertäre sentimentale Selbstbehauptung im schicksalhaft erlebten Bewegungs- und Entwicklungsprozess ist im Lied „Wilde Gesellen“ der späten bündischen Jugend repräsentiert. Der früheste Nachweis findet sich im Arbeiterjugend-Liederbuch von 1929, was eine Entstehung um 1927/28 nahelegt, also zur Zeit der großen bündischen (Teil-)Vereinigung von Wandervögeln, Pfadfindern und anderen freien Bünden; davon sonderte sich wieder die „deutsche jungenschaft 1.11.“ eines E. Koebel („Tusk“) ab. Als Verfasser wird zuweilen der bündische Liedermacher, Fritz Sotke, genannt, vermutlich ist er für Text und Melodie verantwortlich. Nach 1945 taucht gelegentlich eine vierte Strophe auf, die aber nur den Bewegungsprozess zu Ende denkt: „Wenn uns einmal das Herze bleibt stehn […]“, dann bleibt der bürgerlichen Nachwelt immerhin die Erinnerung: „Uns ging die Sonne nicht unter“. Alle ursprünglichen drei Strophen sind Programm, so dass das Lied vollständig wiedergegeben werden muß (in bereinigter Fassung, was die unwesentlichen Varianten der ersten Strophe betrifft):

„Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen und Loden,
ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden.
Fiedelgewandt, in farbiger Pracht, trefft keinen Zeisig ihr bunter;
ob uns auch Speier und Spötter verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.

Ziehn wir dahin durch Braus und Brand, klopfen bei Veit oder Velten,
huldiges Herze und helfende Hand sind ja so selten, so selten!
Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß` , immer nur hurtig und munter,
ob uns der eigene Bruder vergaß, uns geht die Sonne nicht unter.

Aber da draußen am Wegesrand, dort bei dem König der Dornen,
klingen die Fiedeln im weiten Gebreit, klagen dem Herrn unser Carmen.
Und der Gekrönte sendet im Tau tröstende Tränen herunter,
fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau, uns geht die Sonne nicht unter.“

(z.B. in „Lieder d. österr. Alpenvereins-Jugd.“, ca. Mitte-Ende 50er J., vierstrofig, S. 75)

Obwohl das Lied ob seiner anspruchsvollen Anklänge an expressionistische Wortwahl (Neologismen) schwer zu verstehen war, wurden in unseren Pfadfindergruppen (München 1950er-Jahre) meist sämtliche Strophen begeistert gesungen, wobei dahingestellt sein mag, wie genau der Text von den einzelnen Singern erfasst wurde.
Die Strophen 1 und 2 sind symmetrisch in die Opposition von Wander-Elend und Wander-Freude geteilt. Zwischen beiden Seelenlagen waltet ein trotzig-dialektisches Prinzip: „ehrlos bis unter den Boden (d.h. ins Grab)“ – „huldiges Herze […] so selten“, aber: „fiedelgewandt, in farbiger Pracht, immer nur hurtig und munter“. „Ehrlos“ bedeutet im ursprünglichen Sinn soviel wie „verachtet“, „marginalisiert“, „verlacht“ (im Gegensatz zur üblichen Bedeutung: „unwahrhaftig“), während „Fürsten“ über maximales Ansehen verfügen. „Stolz“ und in kleidsamer „Pracht“, wenn auch gesellschaftlich geächtet, so wollten sich die jugendlichen Selbstausgrenzer sehen. Allerdings beklagt man die damit verbundene soziale Kälte des Establishments (sogar der eigenen Familie) gegenüber marginalisierten Existenzen, aber auch dies ist nur der Preis, den man mit pathetisch-trotziger Gestik entrichtet, um einen vitalen Lebens- Mehrwert dafür einzutauschen: „Uns geht die Sonne (des Lebens) nicht unter“.
Mancher Altwandervogel, der nach 1918 vor dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nichts stand, schloss sich Anfangs der 20er-Jahre Freikorps an (es gab sogar eine Wandervogel-Einheit), die später aber von der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr benötigt wurden.
Die dritte und wohl ursprünglich letzte Strophe lässt dann ein überraschend neues Thema anklingen: eine christliche Außenseiter-Existenz. Wandern als Nachfolge Christi im weitesten Sinn! Die Solidarität adeliger Marginalisierter wird beschworen und ins Metaphysische verlängert: „der Gekrönte“ und seine „Fürsten“. In expressionistisch-elitärer Sprechweise wird die Ausgelesenheit als Auserlesenheit interpretiert („Gebreit“ – „unser Carmen“ – „der Gekrönte“ – „tröstende Tränen“). Mancher mag an Stefan George und seinen „Kreis“ gedacht haben. Christus als lebensspendende Kraft, die Annäherung von lebensideologischer und christlicher Jugendbewegung, deutet sich hier an, wie sie von Romano Guardini (katholisch) oder Wilhelm Stählin (evangelisch) ins Werk gesetzt wurde. Wer die unbarmherzige, lebensfeindliche Umwelt verkörpert, wird von Lied-Autor Sotke nicht verschwiegen: „Speier und Spötter“, d.h. wohl Gegner von Jugendbewegung und Jugendreichs-Idee; vielleicht waren bei manchen Bünden auch politische oder weltanschauliche Antagonisten gemeint.
Es verwundert keineswegs, dass dieses Lied, so beliebt es auch war, in keinem derjenigen Liederbücher enthalten ist, die von Vertretern der Jugend-Musikbewegung dominiert wurden, von den Hensel, Jöde und Gödecke (Halm erlebte das Lied schon nicht mehr), und dies aus mehreren Gründen: Die pubertär-maskuline Rhetorik passte nicht in das ursprüngliche Volksliedkonzept: „Echt & schlicht“; sie wurde vielleicht sogar mit dem neuen (Münchner) Modewort „Kitsch“ bedacht.
Zum anderen war die Außenseiter-Mentalität den sehr bürgerlichen Musikerziehern fremd, die den jungen Menschen in die etablierte ‚Volksgemeinschaft‘ integrieren wollten. Auch verstieß das Lied gegen die Turnerprinzipien „frisch & fröhlich“. Von der Hitlerjugend wurde das Lied zwar (nach mündlichem Bekunden) gerne gesungen (es stellte sogar den Titel eines HJ-Liederbuchs, nachdem sich Sotke zur Kollaboration entschlossen hatte), jedoch widersprach es der seit 1934 (sog. „Röhmputsch“) üblichen ideologischen Ausrichtung des NS-Systems an „Ordnung“, „Uniformierung“ („bunt“? „Lumpen und Loden“?) und stand einer nützlichen (instrumentalisierbaren) Mitgliedschaft in der „Volksgemeinschaft“ im Weg, ganz abgesehen von seiner christlichen Tendenz.

© 2000-2010, Verlag Dr. Kovač

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