Ännchen von Tharau

Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt,
sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
auf mich gerichtet in Lieb‘ und in Schmerz.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.

Käm alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,
wir sind gesinnt beieinander zu stahn.
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein
soll unsrer Liebe Verknotigung sein.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
je mehr ihn Hagel und Regen anficht,
so wird die Lieb in uns mächtig und groß
durch Kreuz, durch Leiden, durch mancherlei Not.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.

Würdest du gleich einmal von mir getrennt,
lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt,
ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer,
Eisen und Kerker und feindliche Heer.
Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn,
mein Leben schließ ich um deines herum.

Text: Simon Dach 1636 – (1605–1659) in einem plattdeutschen (samländischen) Dialekt. Übertragung ins Hochdeutsche von Johann Gottfried Herder 1778 – (1744-1803)
Melodie: Friedrich Silcher 1827 – (1789-1860)

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Michael Fischer: Ännchen von Tharau (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. http://www.liederlexikon.de/lieder/aennchen_von_tharau/

Das Liebeslied „Ännchen von Tharau“ gehört zu den beliebtesten „Volksliedern“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Obwohl es schon im 17. Jahrhundert entstanden ist, wurde es breiteren Kreisen erst durch die Übertragung Johann Gottfried Herders ins Hochdeutsche bekannt (1778). Populär gemacht hat es die Vertonung von Friedrich Silcher (1827).

I. Die Verse zu „Ännchen von Tharau“ werden dem Dichter Simon Dach (1605–1659) zugeschrieben. Einer Kirchenchronik aus dem Jahr 1723 zufolge wurde das Lied 1636 von Dach anlässlich der Trauung von Anna Neander gedichtet, und zwar in einem plattdeutschen (samländischen) Dialekt. Nach einer anderen Quelle – ebenfalls im Jahr 1723 geschrieben – soll der Dichter selbst in die Frau verliebt gewesen sein. Erstmals im Druck erschien der siebzehnstrophige Text im Jahr 1642: Heinrich Albert (1604–1651) hat ihn, mit einer Melodie, einer obligaten Violinstimme und Generalbass versehen, in das fünfte Heft seiner „Arien“ aufgenommen (Edition A). Die dort gemachte Verfasserangabe „Aria incerti Autoris“ ist nicht eindeutig. Mit „Aria“ kann nämlich im Sprachgebrauch der Zeit sowohl der Text als auch die Melodie gemeint sein. Insofern kann die traditionelle Zuweisung an Simon Dach aufgrund dieser Angabe weder sicher verifiziert noch falsifiziert werden. Ein Indiz für die Verfasserschaft Dachs ist allerdings die Überschrift: Sie ist ein Zitat aus einem seiner Gedichte.

II. Das Lied thematisiert die Liebe zu einer Frau mit Namen und Herkunftsbezeichnung „Anke (Ännchen) von Tharau“. In siebzehn zweizeiligen Strophen wird diese gelobt und zugleich das frühneuzeitliche Liebes- und Eheideal entfaltet. Unter anderem wird ausgeführt, dass die Beziehung zwischen Mann und Frau durch allerhand Beschwernisse intensiviert werde. So ist auch das Bild vom Palmbaum (Strophe 6) zu verstehen: Im 17. Jahrhundert war man der Auffassung, dass dieser Baum kräftiger wachse, wenn er mit Gewichten beschwert werde oder der Unbilden der Natur ausgesetzt sei. Strophe 11 setzt den Mann als Oberhaupt der Frau voraus, wie es die damalige Gesellschafts- und Rechtsordnung vorsah. Gleichzeitig verpflichtet sich der Mann, seine Frau zu lieben. Diese Dialektik zwischen Unterordnung der Frau einerseits und Liebesverpflichtung des Mannes andererseits wurzelt in der christlichen Ethik, die von der Urkirche (vgl. Eph 22–33) bis weit in das 20. Jahrhundert ihre Geltung behaupten konnte.

III. Die Popularisierung des Liedes vollzog sich in mehreren Schritten: Den ersten bildete die Übertragung des plattdeutschen Textes in die Hochsprache durch Johann Gottfried Herder für seine Sammlung „Volkslieder“, die 1778 in Leipzig herauskam (Edition B). Dann erfolgten verschiedene Kompositionen: Bereits 1779 erschien das Lied in der Vertonung von Karl Siegmund Freiherr von Seckendorff (1744–1785). Diese Melodie wurde 1799 vom wirkungsgeschichtlich bedeutsamen „Mildheimischen Liederbuch“ übernommen (Edition D). Ein Jahr zuvor nahm Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) das Gedicht in seine Sammlung „Wiegenlieder für gute deutsche Mütter“ auf, versehen mit einer denkbar schlichten Melodie in F-Dur (Edition C). Ein weiterer, bedeutsamer Rezeptionsschritt stellt der Abdruck des Textes in des „Des Knaben Wunderhorn“ (1806) dar (Edition E). Dort wurde das Lied – wie schon im „Mildheimischen Liederbuch“ – um die letzten sieben Strophen gekürzt und mit dem neuen, gleichsam barocken Emblemtitel „Der Palmbaum“ versehen. Kurz darauf brachten Büsching und von der Hagen das Lied in ihrer „Sammlung deutscher Volkslieder“ (1807) heraus, versehen mit der Melodie aus Heinrich Albrechts Veröffentlichung. Wirklich populär wurde das Lied freilich erst nach 1827 durch die Vertonung von Friedrich Silcher als vierstimmigen Männerchor (Edition F). In dieser Fassung entwickelte sich „Ännchen von Tharau“ zum Inbegriff für die volkstümliche Männerchorästhetik des 19. und 20. Jahrhunderts und hat in diesem Sinne die Vorstellungen vom „Volkslied“ nachhaltig geprägt.

IV. Dementsprechend hat die Silcher-Melodie die beiden anderen – auch die reizvolle aus dem Mildheimischen Liederbuch – vollständig verdrängt. Zu dem Lied sind nicht nur unzählige musikalische Bearbeitungen, Chorsätze und Arrangements entstanden, sondern auch ein Drama von Willibald Alexis (1829). Auf der Bühne folgten eine „romantische Oper“ von Ernst Catenhusen (1875) sowie ein Singspiel von Heinrich Josef Strecker (1933). Die anhaltende Verbreitung des Liedes spiegelt sich auch in Quodlibet-Zitaten, Liedillustrationen (Abb. 1) und Liedpostkarten (Abb. 2), ebenso in Verarbeitungen der Kunstmusik, etwa in Arnold Schönbergs Suite op. 29 (1925/26).

V. Parallel zur dominanten Rezeption der Silcher-Fassung hinterließ im 20. Jahrhundert die Singbewegung und das allgemein wiedererwachte Interesse an der Barockmusik ihre Spuren: Vereinzelt wurde die ursprüngliche Weise von Heinrich Albert in Gebrauchsliederbüchern abgedruckt. Punktuell wurde das Lied später auch von der deutschen Folkbewegung aufgegriffen. Mit dem sinkenden Stern der Männerchor-Bewegung wechselte „Ännchen“ jedoch zunehmend ins Repertoire der schlagerbeeinflussten volkstümlichen Musik. Auch als Figur hatte „Ännchen von Tharau“ noch nach dem Zweiten Weltkrieg Konjunktur: Unter diesem Titel wurde 1954 ein Heimatfilm gedreht und die literarische Liedrezeption, angestoßen von Franz Hirschs erfolgreichem Buch „Aennchen von Tharau. Ein Lied aus alter Zeit“ (1882, 14. Aufl. 1925), wird bis in die jüngste Vergangenheit weitergeführt durch das Buch „Tharau liegt woanders“ (Düsseldorf 1987) von Hedwig von Lölhöffel sowie den Jugendroman „Uli, komm heim“ (1990) von Gustav Damann.

MICHAEL FISCHER
(Oktober 2005 / September 2007)

Literatur

  • Peter Andraschke: Der volkstümliche Herder: Ausblick in die Moderne. Eine musikalische Dokumentation. In: Ders., Helmut Loos (Hrsg.): Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West. Freiburg 2002, S. 167–207 (speziell zum Lied: S. 186–203).
  • Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Hrsg. von Alfred Kelletat. Stuttgart 1986, bes. 383ff.
  • Joseph Müller-Blattau: Wege des Volksliedes III. Ännchen von Tharau. In: Die Musik 26 (1933/34), Nr. 7 (April 1934), S. 490–497 [Teil I dieser Aufsatzfolge hatte Müller-Blattau dem Horst-Wessel-Lied gewidmet].
  • Oskar Fischl: Motive des Properz in Simon Dachs „Anke von Tharaw“. In: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, hrsg. von August Sauer, 8 (1909), S. 11-16.

Editionen und Referenzwerke

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen:, überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern (über 200), vereinzelt Flugschriften, etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten, gelegentlich Liedillustrationen in Gebrauchsliederbüchern
  • Tondokumente: sehr viele Tonträger (über 250)

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Berlin) miteinbezogen.

© Deutsches Volksliedarchiv

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