Es saß ein klein wild Vögelein

Es saß ein klein wild Vögelein
auf einem grünen Ästchen,
es sang die ganze Winternacht,
die Stimm tät laut erklingen.

„O, sing mir noch, o sing mir noch,
du kleines, wildes Vöglein!
Ich will um deine Federlein
dir Gold und Seide winden.“

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Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

„Behalt dein Gold, behalt dein Seid,
ich will dir nimmer singen.
Ich bin ein klein wild Vögelein,
und niemand kann mich zwingen.“

„Geh du heraus aus diesem Tal,
der Reif wird dich auch drücken.“
„Drückt mich der Reif, der Reif so kalt,
Frau Sonn wird mich erquicken.“

(In den verschiedenen Liederbüchern stehen unterschiedliche Textfassungen, und in manchen Büchern fehlt die 4. Strophe).

Text: Siebenbürgen Mitte des 19. Jahrhunderts, 1893 von Franz Magnus Böhme (1827-1898) ins Hochdeutsche übertragen
Melodie: Siebenbürgen Mitte des 19. Jahrhunderts

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Frauke Schmitz-Gropengiesser: Es saß ein klein wild Vögelein (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/es_sass_ein_klein_wild_voegelein/

Das Lied „Es saß ein klein wild Vögelein“ entstand aus einer Mitte des 19. Jahrhunderts in Siebenbürgen aufgezeichneten Kurzform der weit verbreiteten Ballade „Nachtigall als Warnerin“. Dieser Balladentyp ist in unterschiedlichen Versionen seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Den mundartlichen Text der siebenbürgischen Fassung hat der Volksliedforscher Franz Magnus Böhme 1893 ins Hochdeutsche übertragen und damit das Lied breiter bekannt gemacht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde „Es saß ein klein wild Vögelein“ von der Jugendbewegung aufgegriffen und fand in der Folge Eingang in viele Gebrauchsliederbücher. Im Kreis von Siebenbürger Sachsen pflegte man das Lied nun als kulturelles Erbe. Eine gewisse Popularität gewann „Es saß ein klein wild Vögelein“ nochmals Mitte der 1970er Jahre durch seine Rezeption in der deutschen Folkbewegung.

I. 1865 veröffentlichte der im siebenbürgischen Mühlbach (heute: Sebes, Rumänien) geborene Lehrer und spätere Pfarrer Friedrich Wilhelm Schuster (1824–1914) eine Sammlung „Siebenbürgisch-sächsischer Volkslieder“ aus mündlicher Überlieferung. Darin findet sich gleich als erste Nummer das Lied „Et sâs e klî wält fijeltchen“ (Edition A). Ihm hatte Schuster bereits 1857 einen Artikel gewidmet, hier aber nur den Text des in seinem Heimatort aufgezeichneten Liedes mitgeteilt (in einer Dialektumschrift zudem, die von der späteren etwas abweicht). Schuster erklärte das vierstrophige Lied „Et sâs e klî wält fijeltchen“ als verkürzte Variante der seit dem frühen 16. Jahrhundert nachweisbaren Ballade „Nachtigall als Warnerin“ (s. Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien 1976, Nr. 137). Im Zuge der deutschen Besiedlung Siebenbürgens sei diese Ballade „hierher verpflanzt“ worden und habe bis Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewisse „Metamorphosen“ durchlaufen (Schuster 1857; s. auch Klein 1928). Die Melodie, nach der „Et sâs e klî wält fijeltchen“ in Mühlbach gesungen wurde (Edition A), ist für die Ballade sonst nicht belegt.

II. Das Lied „Et sâs e klî wält fijeltchen“ handelt von einem Vögelchen, das die ganze Winternacht hindurch singt. Es wird von einem Menschen angesprochen, der ihm in Aussicht stellt, seine Flügel mit Gold und Seide zu schmücken, sofern es nur noch für ihn sänge. Das Vögelchen aber lehnt ab, denn es möchte sich keinerlei Zwang unterwerfen. Dem Einwand, dass es dann friere, entgegnet es mit dem Hinweis auf „fræ San“ (Frau Sonne), die wärme. Wie in der Ballade „Nachtigall als Warnerin“ wird das Vögelchen als junge Frau verstanden, die nicht bereit ist, ihre Freiheit für einen offenbar reichen Mann aufzugeben, der sie umwirbt. Franz Magnus Böhme übertrug das siebenbürgische Lied „Et sâs e klî wält fijeltchen“ ins Hochdeutsche („Es saß ein klein Waldvögelein“) und präsentierte es im „Deutschen Liederhort“ (1893) als variante Fassung der Ballade „Nachtigall als Warnerin“ (Edition B).

III. Nicht mit der hochdeutschen Textübertragung Böhmes, sondern einer zweiten eines unbekannten Bearbeiters („Es saß ein klein wild Vögelein“) wurde das aus Siebenbürgen stammende „Et sâs e klî wält fijeltchen“ ab dem frühen 20. Jahrhundert als nunmehr eigenständiges Lied rasch relativ bekannt. Eine für die Verbreitung des Liedes wichtige Rezeptionsetappe war seine Aufnahme in das auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. herausgegebene „Volksliederbuch für Männerchor“ (1906). Hier entfiel, wie in der Folge zumeist, die vierte Strophe der Vorlage. Zu seiner weiteren Popularisierung trug die Aufnahme in Liederbücher der Wandervogel- und Jugendbewegung bei, etwa in Hans Breuers „Zupfgeigenhansl“; im Abschnitt „Minnedienst“ erschien es darin erstmals in der 10. Auflage von 1913 (Edition C). Die breiteste Rezeption erfuhr „Es saß ein klein wild Vögelein“ in Gebrauchsliederbüchern der 1920er bis 1950er Jahre; ein wichtiger Multiplikator des Liedes waren Schulliederbücher (z. B. „Singkamerad. Schul-Liederbuch der deutschen Jugend“, hrsg. vom NS-Lehrerbund). Vergleichsweise selten erschien das Lied mit vier Strophen (Edition D).

IV. Wurden in Siebenbürgen selbst bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einschlägige Liedsammlungen veröffentlicht, die das von Schuster überlieferte Lied enthielten (z. B. Gottlieb Brandsch: „Siebenbürgisch-deutsche Volkslieder“, Hermannstadt 1931), so ließ das Interesse der entsprechenden Volksgruppe an ihm auch nach 1945 nicht nach. Zum einen wurde es als explizit siebenbürgisches Lied in Liederbücher der Heimatvertriebenen aufgenommen (z. B. „Unverlierbare Heimat. Lieder der Vertriebenen“, Bad Godesberg 1963; „Lieder der unvergessenen Heimat“, München 1981); zum anderen erschien es in Liederbüchern sowie gelegentlich auf Schallplatten zur Pflege der siebenbürgisch-sächsischen Tradition im Rumänien der Nachkriegszeit (Edition E). Gegen Ende der 1960er Jahren entdeckte die deutsche Folkbewegung das Lied „Es saß ein klein wild Vögelein“ für sich. Platteneinspielungen liegen etwa von Fiedel Michel, Elster Silberflug und der luxemburgischen Gruppe Dullemajik vor. Eine 1979 erschienene Karikatur thematisierte an Hand dieses Liedes die auf Konzerten der Folkszene manchmal auftretende Diskrepanz zwischen Textinhalt und bühnentechnischem Aufwand (Abb. 1). Die Rezeption von „Es saß ein klein wild Vögelein“ in Gebrauchsliederbüchern geht gegen Ende des 20. Jahrhunderts deutlich zurück.

V. „Es saß ein klein wild Vögelein“ ist über die Jahrzehnte hinweg unterschiedlich gedeutet worden. In der Jugendbewegung dürfte das im Lied besungene Vöglein Sinnbild für die Ungebundenheit gewesen sein, die man selbst in freier Natur, etwa bei Wanderungen, suchte. Die Siebenbürger Sachsen haben mit dem Lied nach 1945 andere Assoziationen verbunden: Für die Vertriebenen oder Ausgewanderten bedeutete es eine Erinnerung an die verlorene Heimat, für die in Rumänien Verbliebenen ein Identität stiftendes Festhalten an der Tradition einer Minderheitenkultur (Edition E). Der im Lied ausgedrückte Freiheitswille, der sich nicht korrumpieren bzw. unterdrücken lässt, kam wiederum der Folkbewegung (in Ost- wie in Westdeutschland) entgegen. Der DDR-Liedermacher Reinhold Andert dichtete den Text vom „klein wild Vögelein“ 1980 systemkritisch um (Edition F). In der westdeutschen Umweltschutzbewegung wurde „Es saß ein klein wild Vögelein“ dagegen auf andere Weise rezipiert. In Köln übernahm man 1979 die Melodie und das Motiv des singenden „Vögeleins“ für einen Protestsong gegen Naturzerstörungen durch den Bau einer Stadtautobahn (Edition G).

FRAUKE SCHMITZ-GROPENGIESSER
(März 2012)

Literatur

  • Karl Kurt Klein: Mitgebrachtes Volksliedergut der Siebenbürger Sachsen. Das Lied vom „kleinen, wilden Vögelein“. In: Deutsches Vaterland. Zeitschrift für Heimat und Volk. Sonderheft „Siebenbürger Sachsen“, 1922, S. 209–215.
  • Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Räthsel, Zauberformeln, und Kinder-Dichtungen. Mit Anmerkungen und Abhandlungen hrsg. von Fried. Wilhelm Schuster. Hermannstadt 1865, S. 3f. u. 410–414.
  • [Friedrich] W[ilhelm] Schuster: Ausläufer über ein siebenbürgisch-sächsisches Volkslied. In: Aus Siebenbürgens Vorzeit und Gegenwart. Mittheilungen von Fr. Fronius [u. a.]. Hermannstadt 1857, S. 51–57 (online verfügbar).

Editionen und Referenzwerke

  • Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Hrsg. vom Deutschen Volksliedarchiv. Bd. 6: Deutsche Volkslieder. Balladen. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich. Freiburg: Verlag des Deutschen Volksliedarchivs 1976, Nr. 137 (Nachtigall als Warnerin), S. 215–238.
  • Erk/Böhme 1893, Bd. 1, S. 535 (Nr. 173f).

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern, verschiedene sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: etliche Tonträger

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.

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