Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein, was mein einst war!
Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Herbst und Frühling bringt;
Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang
Das jetzt noch klingt?
Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme
O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil’gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn, entfliehn im Traum!
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr;
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer.
Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
Und der leere Kasten schwoll,
Ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
Wird’s nie, wird’s nie mehr voll.
Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
Dir zurück, wonach du weinst;
Doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe
Singt im Dorf wie einst.
Text: Friedrich Rückert 1818 – (1788-1866)
Melodie: Robert Radecke 1859 – (1830–1911)
Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Karin Vorderstemann: Aus der Jugendzeit (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. http://www.liederlexikon.de/lieder/aus_der_jugendzeit/
Das auch als „Schwalbenlied“ bekannte Lied „Aus der Jugendzeit“ wurde von Friedrich Rückert vermutlich 1818 verfasst, 1831 erstmals gedruckt und über sechzigmal vertont. Populär wurde die 1859 von Robert Radecke komponierte Melodie. Im späten Kaiserreich und während der Weimarer Republik war „Aus der Jugendzeit“ weit verbreitet, nach 1945 erlebte es eine temporäre Renaissance als Lied der Heimatvertriebenen, ehe es zunehmend in Vergessenheit geriet. Heute findet es sich vor allem in dokumentarisch angelegten Liedersammlungen sowie Seniorenliederbüchern.
I. „Aus der Jugendzeit“ entstand während Friedrich Rückerts Romaufenthalt (Oktober 1817 – Februar 1819) und wurde erstmals im „Musenalmanach für das Jahr 1831“ gedruckt (Edition A). Als Vorlage diente Rückert ein im deutschen Sprachgebiet weit verbreiteter Kindervers, den er in seinem Gedicht zweimal wörtlich zitiert. Bereits 1831 ist das Gedicht von Conradin Kreutzer vertont worden, allgemein bekannt wurde aber erst die Komposition von Robert Radecke aus dem Jahr 1859 (Edition B) sowie der vor 1863 entstandene Satz für vierstimmigen Männerchor von Moritz Hauptmann (Edition C), der sich parallel zu Radeckes Vertonung im Repertoire halten konnte.
II. Die allgemeine Wahrnehmung des Schwalbenlieds als nostalgisch-verklärender Rückblick auf die Jugendzeit und musikalisierter Inbegriff der Sehnsucht wurde vor allem durch Robert Radeckes Version des Liedes geprägt. Radecke formte das aus neun vierzeiligen Strophen bestehende Gedicht in ein Walzerlied mit drei Strophen à acht Zeilen um, wobei er die Strophen eliminierte, in denen Rückert auf den Schwalbenspruch anspielt. Das Ergebnis dieser Verkürzung ist eine deutliche Sentimentalisierung des Liedes, die sich in einer Vielzahl von literarischen und privaten Dokumenten sowie mehreren Liedpostkarten spiegelt (Abb. 1) und zu seiner Popularität zweifellos beitrug.
III. Verbreitet wurde „Aus der Jugendzeit“ vor allem in gedruckten Liederbüchern. Bereits 1836 fand das Schwalbenlied Eingang in Friedrich Karl von Erlachs Liededition „Die Volkslieder der Deutschen“ (Mannheim 1836, Bd. 5). Diese frühe Sanktionierung des auf „Volksdichtung“ beruhenden Liedes als „Volkslied“ dürfte dessen weitere Tradierung begünstigt haben. Schon im 19. Jahrhundert ist die Überlieferung in Gebrauchsliederbüchern relativ dicht. Anfangs wurde das Lied ohne Melodieangabe oder in heute vergessenen Vertonungen verschiedener Komponisten abgedruckt. Diese wurden aber noch vor der Jahrhundertwende von Robert Radeckes eingängiger Walzermelodie verdrängt, die nunmehr in fast allen Liederbüchern wieder- bzw. angegeben wird – mit Ausnahme des bei Chören beliebten Satzes von Moritz Hauptmann. Auch im frühen 20. Jahrhundert und in der Weimarer Republik war „Aus der Jugendzeit“ in der Fassung von Radecke fester Bestandteil der Liederbücher unterschiedlichster Verbände und Zielgruppen: Es findet sich in Schulliederbüchern (Edition D) ebenso wie in Publikationen christlicher Verbände, in Vereinsliederbüchern, in Liedersammlungen für Wandervögel oder für deutschnationale Verbände. Hinzu kamen musikalische Bearbeitungen, etwa Carl Friedemanns Klavier-„Paraphrase über Rob. Radecke’s Lied: Aus der Jugendzeit“ op. 146 (Magdeburg: Heinrichshofen 1903), Schallplatteneinspielungen namhafter Sänger wie Richard Tauber, Heinrich Schlusnus, Marcel Wittrisch oder Peter Schreier sowie die Übersetzung des Liedes ins Englische (Edition E) und eine amerikanische Nachdichtung (Edition F).
IV. Während des Dritten Reichs wurde das Schwalbenlied kaum noch publiziert, nach 1945 erlebte es als Lied der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen eine kurze Renaissance. Seit den 1960er Jahren findet sich das Lied immer seltener in Gebrauchsliederbüchern, dafür mehren sich ab 1980 die Belege in dokumentarisch orientierten regionalen Liedersammlungen sowie in Liederbüchern, die entweder von der älteren Generation angelegt wurden oder sich speziell an diese richten. Diese Tendenz spiegelt sich auch in anderen Rezeptionszeugnissen. Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde „Aus der Jugendzeit“ gerne als Motto für Memoiren herangezogen, daneben finden sich aber auch zahlreiche briefliche Zeugnisse und literarische Referenzen, die die große Popularität des Liedes dokumentieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden solche Belege zunehmend rar. Am ehesten finden sich Anspielungen auf das Lied noch in Autobiographien und literarisch überformten Jugenderinnerungen älterer Autoren, in rein belletristischen Texten sind Referenzen auf das Schwalbenlied die Ausnahme. Gesungen wird „Aus der Jugendzeit“ nur noch selten, allerdings gehört es noch immer zum Repertoire von Männergesangvereinen. Daneben ist es gelegentlich als Drehorgellied sowie alljährlich im Winter vom Glockenturm des 1951 erbauten Rathauses der Stadt Nordhorn zu hören.
KARIN VORDERSTEMANN
(Dezember 2009)
Literatur
- Karin Vorderstemann: „Aus der Jugendzeit klingt ein Lied …“. Rückerts Schwalbenlied und seine populäre Rezeption. In: Rückert-Studien XIX (2010), S. 51-93.
Editionen und Referenzwerke
- Hoffmann/Prahl 1900, S. 24 (Nr. 104).
- Böhme, Volksthüml. Lieder 1895, S. 206f. (Nr. 269).
Weiterführende Literatur
- Rüdiger Rückert: Die letzten Strophen zu Rückerts Schwalbenlied. In: Miscellanea Suinfurtensia Historica IV (1964), S. 218–220.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern, etliche sonstige Rezeptionsbelege (belletristische Literatur, Briefe und autobiographische Schriften)
- Bild-Quellen: öfters auf Liedpostkarten, gelegentlich Liedillustrationen
- Tondokumente: gelegentlich auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Berlin) miteinbezogen.
© Deutsches Volksliedarchiv
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