Bald gras ich am Neckar,
bald gras ich am Rhein,
bald hab ich ein Schätzel,
bald bin ich allein.
Was hilft mir das Grasen,
wenn d‘ Sichel nicht schneid’t,
was hilft mir mein Schätzel,
wenn’s bei mir nicht bleibt.
Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme
Und soll ich denn grasen
am Neckar, am Rhein,
so werf‘ ich mein schönes
Goldringlein hinein.
Es fließet im Neckar,
es fließet im Rhein,
soll schwimmen hinunter
ins tiefe Meer ’nein.
Und schwimmt es, das Ringlein,
so frißt es ein Fisch,
das Fischlein soll kommen
auf’n König sein‘ Tisch.
Der König tät fragen
wem’s Ringlein soll sein?
Da tät mein Schatz sagen:
„Das Ringlein g’hört mein.“
Mein Schätzel tät springen
bergauf und bergein,
tät mir wied’rum bringen
das Goldringlein fein.
„Kannst grasen am Neckar,
kannst grasen am Rhein,
wirf du mir nur immer
dein Ringlein hinein!“
(Zu diesem Lied gibt es in den verschiedenen Liederbüchern minimale Textvariationen.)
Text: unbekannt 18. Jahrhundert, 1808 in Des Knaben Wunderhorn. (In vereinzelten Quellen steht, daß die ersten beiden Strophen traditionell und die Strophen 3 – 8 von Augusta von Plattberg (oder Plattenberg) seien).
Melodie: unbekannt vor 1830
Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Tobias Widmaier: Bald gras ich am Neckar (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. http://www.liederlexikon.de/lieder/bald_gras_ich_am_neckar/
Der 1808 im dritten Band der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ erstmals veröffentlichte Text des Liedes „Bald gras ich am Neckar“ wurde von Auguste Pattberg unter Verwendung volkstümlicher Vorlagen geschrieben. Ausphantasiert wird darin eine Liebesprobe mit glücklichem Ausgang. Ab 1830 fand „Bald gras ich am Neckar“ in zahlreichen Gebrauchsliederbüchern Aufnahme und blieb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts populär.
I. Zu den Liedeinsendungen, die die Herausgeber der romantischen Volkslied-Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (3 Bde., Heidelberg 1806–08), Achim von Arnim und Clemens Brentano, auf ihre entsprechenden Aufrufe hin erhalten und in ihre Publikation aufgenommen haben, zählt auch „Bald gras ich am Neckar“ (Edition A). Einsenderin war die in Neckarelz nahe Heidelberg lebende Dichterin und Sagensammlerin Auguste Pattberg (1769–1850), die diesen Liedtext unter Verwendung volkstümlicher Vorlagen selbst verfasst hat, was im „Wunderhorn“ jedoch verschleiert wurde.
II. Auguste Pattberg – von der auch das „Wunderhorn“-Lied „Es steht ein Baum im Odenwald“ stammt – griff für ihre Liedneuschöpfung zwei seinerzeit offenbar recht verbreitete Vierzeiler im Schnaderhüpfel-Stil auf; ihnen fügte sie sechs eigene Strophen hinzu, die ein traditionelles Erzählmotiv ausspinnen (s. Künzig 1934). Lyrisches Ich des Liedes ist eine junge Frau, die eine unstete Liebesbeziehung unterhält und sich deshalb in einem Tagtraum eine Liebesprobe für ihr „Schätzel“ ausmalt. Pattberg verortete das Geschehen durch eine Veränderung der überlieferten Eingangsstrophe in ihrer Heimatregion: „Bald gras ich am Neckar [statt: Acker], / bald gras ich am Rhein [statt: Rain], bald hab ich ein Schätzel, / bald bin ich allein“ (zur Bedeutung und erotischen Konnotation des Wortes „grasen“ s. Grimm 1958). Weil der begehrte Mann „bei mir nicht bleibt“ (Str. 2), imaginiert sich die junge Frau eine märchenhaft-phantastische Geschichte, an deren Ende sie wieder mit ihm vereint ist: Sie stellt sich vor, ihr „goldiges Ringlein“ in den Neckar zu werfen; vom Rhein würde es ins Meer getragen und dort von einem Fisch gefressen, der wiederum auf die Tafel des Königs komme. „Der König thät fragen, / wems Ringlein soll sein? / Da thät mein Schatz sagen, / das Ringlein g’hört mein“ (Str. 6). Eilends werde er ihr das Ringlein wiederbringen und sie auffordern, es ruhig erneut in den Neckar zu werfen, wenn sie wieder Sehnsucht nach ihm habe. Erstmals mit Melodie veröffentlicht wurde „Bald gras ich am Neckar“ in Serigs „Auswahl deutscher Lieder“ (3. Auflage Leipzig 1830; Edition C). Die „allbekannte“ Schnaderhüpfel-Weise (Erk/Böhme 1894) blieb mit dem Lied bis heute verbunden. Ob sich auch Auguste Pattberg „Bald gras ich am Neckar“ auf diese Melodie gesungen dachte, muss offen bleiben.
III. Ab 1830 fand „Bald gras ich am Neckar“ Aufnahme in zahlreichen Gebrauchsliederbüchern. Zu den wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Sammlungen des 19. Jahrhunderts, die das Lied enthalten, zählt etwa das „Liederbuch für deutsche Künstler“ (1833), Gottfried Wilhelm Finks „Musikalischer Hausschatz der Deutschen“ (1. Auflage 1843) oder das „Allgemeine Deutsche Kommersbuch“ (1. Auflage 1858). Parallel dazu wurden auch die beiden Schnaderhüpfel weiter tradiert, die die Grundlage von Auguste Pattbergs Liedschöpfung gebildet hatten. Als Wanderstrophen begegnen sie in unterschiedlichen Aufzeichnungen aus der mündlichen Singpraxis (Edition B, Edition D). Vereinzelt weisen die entsprechenden Lieder auch Kontaminationen mit dem „Wunderhorn“-Text auf, wie ein Beleg in Elizabeth Marriages Sammlung „Volkslieder aus der Badischen Pfalz“ (1902) zeigt (Edition E). – Gustav Mahler vertonte „Bald gras ich am Neckar“ 1893 im Rahmen seiner Gesänge aus „Des Knaben Wunderhorn“ für Singstimme mit Orchesterbegleitung („Rheinlegendchen“).
IV. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fand das Lied „Bald gras ich am Neckar“ Eingang in eine Reihe von Liederbüchern der Jugend- und Wandervogelbewegung, etwa in die ab 1914 vielfach aufgelegte Sammlung „Deutsche Lautenlieder“ von Walther Werckmeister (Edition F). Nicht enthalten ist „Bald gras ich am Neckar“ bemerkenswerterweise im „Zupfgeigenhansl“ (1. Auflage 1909). Für die Zeit des Nationalsozialismus lassen sich nur wenige Veröffentlichungsbelege ausmachen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat „Bald gras ich am Neckar“ erneut eine relativ breite Rezeption in Gebrauchsliederbüchern gefunden. Eine Parodie des Liedes veröffentlichte mit „Mal gammel ich am Neckar“ 1967 Dieter Höss (Edition G).
TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Januar 2013)
Literatur
- Johannes Künzig: Der im Fischbauch wiedergefundene Ring in Sage, Legende, Märchen und Lied. In: Volkskundliche Gaben. John Meier zum siebzigsten Geburtstag dargebracht. Berlin, Leipzig 1934, S. 85–103 (zu „Bald gras ich am Neckar“ S. 100–103).
Editionen und Referenzwerke
- Rölleke/Wunderhorn 1976/77, Bd. 7, S. 16f., Bd. 9/2, S. 33f.
- Erk/Böhme 1894, Bd. 3, S. 788f. (Nr. 1048).
- Friedlaender: Commersbuch 1892, S. 14 (Nr. 13) u. S. 150.
Weiterführende Literatur
- Grimms Deutsches Wörterbuch Bd. 4/I.5, Leipzig 1958, Sp. 1952 (grasen [1]: „gras und kräuter sicheln, schneiden, rupfen, besonders zum zwecke der stallfütterung und vornehmlich als arbeit von frauen und mädchen. […] das grasen der mädchen und frauen ist ein beliebtes literarisches motiv im zusammenhang mit liebesabenteuern“).
- Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Ketterer. Ein Beitrag zur Geschichte der Heidelberger Romantik. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 6 (1896), S. 62–122.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: zahlreiche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern
- Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten
- Tondokumente: viele Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.
© Deutsches Volksliedarchiv
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