Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldenen Becher gab.
Es ging ihm nichts darüber,
Er leert ihn jeden Schmaus,
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.
Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme
Und als er kam zu sterben,
Zählt‘ er seine Städt‘ im Reich,
Gönnt‘ alles seinen Erben,
Den Becher nicht zugleich.
Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Im hohen Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.
Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heil’gen Becher
Hinunter in die Flut.
Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer.
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.
Text:Johann Wolfgang von Goethe 1774 – (1749–1832)
Melodie:Carl Friedrich Zelter 1812 – (1758–1832)
Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Michael Fischer: Es war ein König in Thule (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/es_war_ein_koenig_in_thule/
Die Ballade „Es war ein König in Thule“ gehört zu den bekanntesten Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Durch die Vertonung Carl Friedrich Zelters (1758–1832) wurde sie bald auch als Lied populär. Die Ballade ist eines der prominentesten Beispiele dafür, wie ein Goethe-Gedicht im Stil des von Herder propagierten „Volkslied“-Ideals im 19. Jahrhundert tatsächlich zu einem breit rezipierten „Volkslied“ wurde.
I. Das Gedicht erzählt von einem sterbenden König. Seine Herrschaft und Güter hinterlässt er seinen Erben, nicht jedoch den „goldnen Becher“, den er einst von seiner „Buhlen“ auf ihrem Totenbett empfangen hatte. Der Becher ist in der Ballade ein Dingsymbol der Treue, die über den Tod hinausreicht. Der „alte Zecher“ wirft dieses Trinkgefäß ins Meer, wobei das „Sinken und Trinken“ zugleich das Sterben des Königs anzeigt. Umstritten ist in der Forschung, ob das Ende des 18. Jahrhunderts bereits veraltete Wort „Buhle“ (Str. 1) die Gemahlin oder eine (illegitime) Liebhaberin meint. Ähnlich wie das Reimwort „Thule“ (ein sagenhaftes Königreich im äußerten Norden) könnte die Wortwahl dazu dienen, das Geschehen zeit- und ortlos und damit exemplarisch zu machen – entsprechend der „Volkslied“-Auffassung der Zeit. Dafür spricht, dass Goethe in seiner Kunstballade noch andere veraltete Wendungen aufgreift, etwa die aus der Lutherbibel stammende Formulierung „die Augen gingen ihm über“ (Joh 11,35) für „weinen“.
II. Die Ballade ist vermutlich im Sommer 1774 entstanden und erscheint wenig später als Bestandteil der frühen Fassung von Goethes Faust-Dichtung. Dort hat sie eine doppelte Funktion: Einerseits ist das Gedicht Bestandteil einer Genre-Szene (Gretchen singt beim Auskleiden ein Lied), andererseits hat es eine symbolische und dramaturgisch wichtige Funktion: Die in der Ballade besungene Treue steht im Kontrast zum Verhalten Fausts. Zuerst veröffentlicht wurde das Gedicht jedoch nicht in Zusammenhang mit der Faust-Dichtung, sondern in der Vertonung des Komponisten Siegmund Freiherr von Seckendorff (1744–1785), der seit 1775 am Weimarer Hof tätig war. Dieser nahm die Ballade 1782 in die dritte Sammlung seiner „Volks- und andere Lieder“ auf, versah sie aber bereits mit der Zuweisung „aus Göthens D. Faust“ (Edition A). Literaturhistorisch bemerkenswert ist, dass von Seckendorff damit eine frühe Fassung der Ballade vorgelegt hat, die von der später publizierten (Faust-Fragmentdruck 1790) abweicht. Eine weite Verbreitung fand „Der König von Thule“ bereits zu Goethes Lebzeiten, einerseits durch die Faustdrucke, andererseits durch die Gedicht-Ausgaben (erstmals im Jahr 1800).
III. Die Ballade wurde neben von Seckendorff auch von zahlreichen anderen Komponisten vertont. An erster Stelle sind Johann Georg Wilhelm Schneider (1805), Johann Friedrich Reichardt (1809) und Friedrich Zelter (1812) zu nennen. Weitere Vertonungen stammen von Franz Schubert (1816), Franz Liszt (1843), Robert Schumann (1849) sowie von Charles Gounod, der den Text in seine Oper „Faust“ (1859) integrierte. Insgesamt sind etwa einhundert Lieder und Chorbearbeitungen und fünfzehn Bühnenmusiken entstanden. Breitenwirksam wurde jedoch allein die Vertonung von Zelter (Edition B), deren Popularität durch die Bearbeitung für Männerchor von Friedrich Silcher (1789–1860) noch gesteigert wurde. Diese ist 1833 erstmals in der „Tübinger Liedertafel“ (op. 16) veröffentlicht worden (Edition C). Der Rezeption stand die Kirchentonart äolisch nicht im Wege: Sie erzeugte zusammen mit dem Text ein historisches, dunkel gefärbtes Kolorit.
IV. Goethes Ballade erfreut sich im ganzen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Eine Vielzahl von Gebrauchsliederbüchern druckte das Lied in der Vertonung von Zelter ab, etwa das „Deutsche Liederbuch“, das Julius Schanz und Carl Parucker 1848 herausgegeben haben. Verbreitet wurde Zelters Komposition auch als Klavierlied, so in der Sammlung „Arion“ (Braunschweig 1830). Im „Allgemeinen Deutschen Commersbuch“ ist das Lied seit der Erstauflage von 1858 vertreten – wieder mit der Melodie von Zelter. In den Schweizer Studentenverbindungen ist der Text jedoch mit einem Satz von Ignaz Heim (1818–1990) verbreitetet, der erstmals im „Liederbuch des Zofingervereins“ (Zürich 1868) erschienen ist. Durch die deutsche Jugend- und Singbewegung wurde das Goethe-Lied mit Zelters Weise im 20. Jahrhundert weitertradiert.
V. Bereits im 19. Jahrhundert sind verschiedene Parodien zu „Es war ein König in Thule“ entstanden. In Form und Duktus folgt das studentische Trinklied „Es war ein Studio von Jena“ eng dem Vorbild. 1861 wurde diese Parodie in den Anhang des „Allgemeinen Deutschen Commersbuches“ aufgenommen (Edition D). Kulturgeschichtlich bemerkenswert ist ferner die Fassung aus dem „Abstinenten-Liederbuch“ (Heidhausen 1917) des katholischen „Kreuzbündnisses“ (Edition E).
VI. Ein literarisches Denkmal hat Georg Britting (1891–1964) der Ballade in seiner Erzählung „Der Gesang des Weckers (oder: Ein anderer König von Thule)“ gesetzt. Das Beispiel verdeutlicht, wie das Lied auf die belletristische Literatur zurückwirkt und die Ballade produktiv fortgeschrieben wird. Daneben reizte das Lied immer wieder zu Illustrationen.
MICHAEL FISCHER
(September 2005 / August 2007)
Literatur
- Michael Fischer: Es war ein König in Thule. Ein Goethe-Lied in illustrierten Liederbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts (Juli 2006/August 2007) In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. Für das Deutsche Volksliedarchiv hrsg. von Eckhard John.
- Otto Holzapfel: Der König in Thule [Liedkommentar]. Booklet zur CD „Röslein auf der Heiden. Goethe und das Volkslied“ Eine Koproduktion des Deutschen Volksliedarchivs und der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg (CD-Nr. SWR 108-99). Freiburg i. Br. 1999, S. 12f.
- Johann Wolfgang Goethe. Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt 1994, S. 118, 500 (Faust frühe Fassung). Kommentar hierzu: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare von Albrecht Schöne. Frankfurt 1994, S. 295f. und 867f.
- Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756–1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt 1987, S. 664f. und 1222f.
- Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. IV. Berlin 1968, S. 229f. und 372f.; Bd. V. Berlin 1973, S. 305 und 478.
Editionen und Referenzwerke
- Friedlaender 1902, Bd. S. 166f.
Weiterführende Literatur
- Michael von Albrecht: Goethe und das Volkslied. Darmstadt 1972, S. 106–108.
- Faust in der Musik. Hrsg. von Karl Theens. Teil 1: Faust im Lied. Von Walter Aign. Stuttgart 1975, S. 41–45.
- Rudolf Brandmeyer: Die Gedichte des jungen Goethe. Eine gattungsgeschichtliche Einführung. Göttingen 1998, S. 174–177 (zu Goethes Balladen).
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern, viele sonstige Rezeptionsbelege
- Bild-Quellen: öfters Illustrationen in Gebrauchsliederbüchern
- Tondokumente: viele Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Berlin) miteinbezogen.
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