Gesang erreicht die Seele unmittelbar – Interview 10.4.2012 mit Wiebke Hoogklimmer

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(Der Link funktioniert nicht mehr, aber nachfolgend ist das gesamte Interview.)

Ruth Hoffmann (Interview), 10.4.2012, fifty2go

Wiebke Hoogklimmer ist Altistin. Gesungen hat sie schon von klein auf. Später studierte sie Musiktheaterregie und absolvierte ein privates Gesangstudium. Als ihre Mutter an Demenz erkrankte, nahm die Tochter eine CD mit Kinderliedern für sie auf. Damit fand sie eine Methode zur Kommunikation mit Demenz-Patienten.

fifty2go: War es ein Zufall, dass Sie Ihrer Mutter etwas vorgesungen haben oder haben Sie das regelmäßig gemacht?

Wiebke Hoogklimmer: In unserer Familie war es üblich zu singen. Wir waren so eine altmodische Familie, die im Schwarzwald in den 70er Jahren wanderte, der Vater mit Mundharmonika, daneben die Mutter mit zwei Kindern singend. Unser Vater spielte auch Akkordeon und begeisterte auf Feiern die Leute immer mit seinem gleichzeitigen Akkordeon- und Mundharmonikaspiel. Meine Mutter hatte darüber hinaus ihr Leben lang Liederbücher gesammelt.

Ich habe dann natürlich, als ich 18 war, erst einmal nicht mehr Volkslieder gesungen und fing erst damit an, als meine Mutter ins Johanniterstift gezogen war und ich eines Nachmittags dachte, das könne ihr Spaß machen. Sie sang damals so fröhlich mit, dass ich von da an regelmäßig mit ihr gesungen habe.

fifty2go: Wann erkrankte Ihre Mutter an Demenz?

Wiebke Hoogklimmer: Die erste Diagnose erhielt unsere Mutter im Jahr 2000. Unser Vater war 1998 gestorben, und unsere Mutter hatte natürlich sehr darunter gelitten. Sie hatte dann 2000 einen Fahrradunfall mit einer schweren Knieverletzung. Bei der Operation im Krankenhaus geschah ein Fehler, und unsere Mutter hatte acht Folge-Operationen. Danach begann sie, krakelig zu schreiben, verlernte das Stricken und konnte die Uhr nicht mehr lesen.

fifty2go: Was waren Ihre Empfindungen?

Wiebke Hoogklimmer: Am Anfang haben mein Bruder und ich die Diagnose erst gar nicht geglaubt. Mit den fortschreitenden Defiziten wurden wir aber natürlich eines Besseren belehrt. Aber wir waren auch nicht verzweifelt, sondern haben ganz sachlich überlegt, wie wir unserer Mutter helfen können. Zu Beginn ist die Krankheit ja noch nicht so schlimm, und wir hätten uns nie vorstellen können, dass unsere Mutter mal in dem Zustand ist, in dem sie sich nun befindet.

Als die Erkrankung 2005 sich immer mehr zuspitzte und klar war, dass meine Mutter immer mehr Hilfe braucht, hatte ich natürlich schon so den Gedanken „Ist nun mein eigenes Leben mit 45 jetzt vorbei?“ Als freiberufliche Sängerin musste ich mir schon große Gedanken machen, wie es mit mir persönlich weitergehen soll.

fifty2go: Haben Sie gegen die Krankheit Ihrer Mutter angekämpft?

Wiebke Hoogklimmer: Nein. Natürlich hat unsere Mutter die Medikamente vom neuesten wissenschaftlichen Stand verschrieben bekommen, und wir haben geschaut, wie wir ihr das Leben am besten erleichtern können. Aber gegen die Krankheit angekämpft haben wir nicht. Ich glaube auch, dass die beste Lösung ist, die Diagnose zu akzeptieren. Unsere Mutter hat am Anfang sehr gelitten, da sie als ehemalige Krankenschwester und Ausbilderin in der häuslichen Krankenpflege genau wusste, was auf sie zukommen würde. Darüber haben wir auch lange Gespräche geführt.

Das Einzige, wogegen man als Angehörige einer Alzheimerpatientin ankämpfen muss, sind die Krankenkasse, der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MdK), das Versorgungsamt, die Gebühreneinzugszentrale und anderes. Meine Widersprüche füllen inzwischen zwei Ordner! Aber ich habe sie alle gewonnen.

fifty2go: Nach welcher Zeit hörte die Kommunikation mit Ihrer Mutter auf?

Wiebke Hoogklimmer: Mit dem Fortschreiten der Krankheit wurden die Wortfindungsprobleme meiner Mutter natürlich immer schlimmer. Ich glaube, seit 2008 spricht meine Mutter nicht mehr.

fifty2go: War der Gesang und die Musik auch für Sie selbst ein Weg, mit der Situation fertig zu werden?

Wiebke Hoogklimmer: Ja. Zum einen ist es für einen selbst viel befriedigender zu singen, als Monologe zu halten, bei denen einem auch irgendwann der Gesprächsstoff ausgeht; zum anderen habe ich beim Singen gemerkt, wie schön manche Volkslieder sind. Auch viele Texte treffen bestimmte Emotionen und Lebenslagen – das ist mir früher gar nicht so klar gewesen. So bin ich nach dem Volksliedsingen selbst auch wesentlich fröhlicher.

fifty2go: Wie bemerkten Sie, dass Ihre Mutter auf die Lieder reagierte; was tat sie?

Wiebke Hoogklimmer: Ganz zu Beginn, als meine Mutter die Sprache verlor, war ich ganz überrascht, dass sie bei meinem Gesang auf einmal komplizierte Phrasen mitsang. Oder sie sagte plötzlich „Schön“. Einmal fragte ich sie, ob sie eingeschlafen sei, da kam ganz deutlich „Nein“. Da war mir klar, sie hat den Gesang genossen. Kürzlich habe ich ihr vorgesungen, da kam von ihr zuerst überhaupt keine Reaktion. Bei ‚Hänschen klein’ reagierte sie auf einmal ganz stark emotional, versuchte sich zu bewegen, ihr Mund verzerrte sich zum Lachen oder Weinen, und sie war ganz erregt. Beim nächsten Lied war sie wieder ruhig. Ein paar Lieder weiter reagierte sie noch einmal ganz stark und fing an zu brabbeln. Also irgendetwas wollte sie mir sagen.

fifty2go: Was löste diese Reaktion in Ihnen aus?

Wiebke Hoogklimmer: Ich habe mich darüber sehr gefreut, da wir so gemeinsame intime Momente haben. Ich kann ja sonst nur über Körperkontakt eine Verbindung zu ihr herstellen.

fifty2go: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine CD für Demenzkranke aufzunehmen?

Wiebke Hoogklimmer: Das war etwa vor dreieinhalb Jahren. Ich war wieder im Zimmer meiner Mutter und sang mit ihr, beziehungsweise ich sang und sie zeigte zwischendurch Reaktionen. Da dachte ich auf einmal, dass sicher auch andere Angehörige gern mit ihren Eltern kommunizieren würden, aber vielleicht die Volkslieder nicht mehr kennen oder nicht so gut singen können, und dass es vielleicht helfen würde, wenn man dann mit der Sängerin auf der CD mitsingen könnte.

fifty2go: Haben Sie eventuell schon Rückmeldungen bekommen, ob auch andere Patienten darauf reagieren?

Wiebke Hoogklimmer: Ja. Ich bin ganz überrascht über die ganzen Rückmeldungen! Die CD wurde von einigen Pflegedienstleitungen und Sozialdienstleitungen gekauft, und es scheint mit den Demenzkranken zu funktionieren. Ich habe die Lieder ja extra in tiefer Tonlage aufgenommen, da im Alter die Stimme immer tiefer wird und viele Mitsing-CDs in zu hoher Tonlage für die ältere Generation sind. Also bisher habe ich die Rückmeldung, dass fröhlich mitgesungen wird.

fifty2go: Was hat Sie selbst dazu bewegt, Sängerin zu werden?

Wiebke Hoogklimmer: Ich habe schon im Kindergarten sehr gern gesungen. Mit acht Jahren kam ich in den Mädchenchor Hannover, mit neun Jahren in den Kinderchor des Opernhauses Hannover…

fifty2go: Und wann haben Sie die Musiktheaterregie für sich entdeckt?

Wiebke Hoogklimmer: Nach dem Abitur war mir klar, dass es mir nicht genügen würde, nur Gesang zu studieren. Der Studiengang ‚Musiktheaterregie“ war damals, 1978 sehr neu. Der Studiengang umfasste Szenenunterricht, Gruppen-Gesangs- und Klavierunterricht, Notenlehre, aber auch den theoretischen Teil wie Dramaturgie, Musikwissenschaft, Psychologie, Musik- und Weltgeschichte und so weiter. Das sprach mich damals mehr an.

fifty2go: Was sind Ihre hauptsächlichen Betätigungsfelder?

Wiebke Hoogklimmer: Nach drei Jahren Gesangsunterricht kam ich in die Altgruppe des RIAS Kammerchores. Obwohl die Bezahlung in Rundfunkchören hervorragend ist, fand ich für mich sehr schnell heraus, dass ich nur als Solistin glücklich werden kann und begann damit, Liederabende als Solistin zu geben. Meine Idee war dann, Regie und Gesang in den Liederabenden zu verbinden. Ich hatte beispielsweise ein halbszenisches Programm mit zeitgenössischen jüdischen Komponisten für Stimme und Schlagzeug und plante auch einen Film zu Aufnahmen von mir.

Diese ganze Idee wurde erst einmal durch die Alzheimererkrankung meiner Mutter unterbrochen, ist aber immer noch sehr präsent und in Planung.

fifty2go: Welchen Weg sind Sie gegangen, um diese Erfahrung zu verarbeiten?

Wiebke Hoogklimmer: Meine ganz persönliche Lebenseinstellung ist, dass ich das, was das Leben mir anbietet, annehme und zum Positiven wende. Trotz des tiefen Einschnitts in mein persönliches und berufliches Leben habe ich die Alzheimererkrankung meiner Mutter nicht als Schicksalsschlag empfunden, sondern als große Bereicherung und Lebenserfahrung. Ich habe an der Erkrankung meiner Mutter gelernt, was das eigentlich Schlichte und Schöne ist, das das Leben lebenswert macht. Als selbstbestimmte erwachsene Person bedeuten einem natürlich Erfolg im Beruf und viele Äußerlichkeiten sehr viel. An meiner Mutter kann ich sehen, dass das schlichte Lebensglück darin liegt, keine materiellen Sorgen zu haben und ganz einfach Essen, Trinken, Sonne, Musik zu genießen.