Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald.
Es war so finster und auch so bitter kalt.
Sie kamen an ein Häuschen von Pfefferkuchen fein:
Wer mag der Herr wohl von diesem Häuschen sein?
Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme
Hu, hu, da schaut eine alte Hexe raus!
Sie lockt die Kinder ins Pfefferkuchenhaus.
Sie stellte sich gar freundlich, o Hänsel, welche Not!
Ihn wollt‘ sie braten im Ofen braun wie Brot.
Doch als die Hexe zum Ofen schaut hinein,
ward sie gestoßen von Hans und Gretelein.
Die Hexe mußte braten, die Kinder geh’n nach Haus.
Nun ist das Märchen von Hans und Gretel aus.
Text und Melodie: unbekannt, um 1900 entstanden in der Folge von Engelbert Humperdinck’s (1854-1921) Oper „Hänsel und Gretel“ nach dem bekannten Märchenstoff der Gebrüder Grimm
Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Renate Sarr: Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/haensel_und_gretel_verliefen_sich_im_wald/
„Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald“ ist ein Kinderlied, das den bekannten Märchenstoff der Gebrüder Grimm zum Inhalt hat. Der Autor des Liedes ist nicht bekannt. Das Lied entstand vermutlich in der Zeit um 1900 als Folge der bekannten und beliebten Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck, die 1893 unter Leitung von Richard Strauss uraufgeführt wurde. Als Kinderlied und -spiel erlangte es im 20. Jahrhundert allgemeine Verbreitung und ist bis heute beliebt.
I. Die frühesten Belege stammen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Im Jahr 1901 erscheint es erstmals mit der ersten Strophe im Schulliederbuch „Das Gehör- und Notensingen in den Elementarschulen“ von Paul Hoffmann, der als Lehrer in Halle an der Saale tätig war. Wenig später bringt Hoffmann das Lied erneut, jetzt mit drei Strophen, in seinem Liederbuch „Lied und Spiel. Neue Singspiele für die Jugend“ (1907) heraus. Hier ist es zudem mit einer ausführlichen Spielbeschreibung versehen (Edition A). In seinem Vorwort schreibt Hoffmann, dass diese „Singspiele“ im Kreise seiner kleinen Schülerinnen entstanden seien. Möglicherweise ist also Paul Hoffmann der Verfasser von Hänsel und Gretel. Kurz vor dem ersten Weltkrieg erschien das Lied bereits in einer repräsentativen Sammlung volkstümlicher Kinderspiele aus Sachsen, die der Komponist Georg Winter 1913 herausgegeben hat (Edition B). Winter hatte um 1895 mit dem Aufzeichnen und Sammeln von Kinderspielen begonnen. Er vermutete, dass das Lied eine Kunstdichtung sei.
II. Das Kinderlied erzählt den Inhalt des bekannten Grimmschen Märchens in Kurzform: Die Geschwister verirren sich im Wald, sie kommen an ein Pfefferkuchenhaus, in dem eine Hexe wohnt. Diese lockt die Kinder in ihr Haus. Dort stellt sich heraus, dass sie die Kinder — Hänsel zuerst — aufessen will. Doch als die Hexe der Gretel zeigt, wie man im Ofen Feuer macht, schiebt Gretel die Hexe schnell in den Ofen. Im Verlauf der Liedgeschichte entwickelten sich zwei unterschiedliche Versionen davon, wer die Hexe in den Ofen schiebt: Hänsel und Gretel gemeinsam, oder Gretel alleine. Auffällig dabei ist, dass sich die mündliche Überlieferung des Liedes weitgehend an die Märchenvorlage hält, in dem Gretel alleine die Hexe in den Ofen schiebt (Edition C).
III. Demgegenüber ist die Überlieferung in Liederbüchern uneinheitlich. Der eine Strang hält sich an die traditionelle Überlieferung. Der andere Strang lässt beide Kinder gemeinsam zur Tat schreiten. Diese Version orientiert sich offenbar an der Handlung der Märchenoper. Sie findet aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg nennenswerte Verbreitung und wird vorwiegend durch gedruckte (Kinder-)Liederbücher verbreitet, in denen man das Lied seit den 1950er Jahren bis in die Gegenwart finden kann (Edition D).
IV. Inhaltlich gesehen ist das nur ein kleiner Unterschied, im Hinblick auf die Erlebniswelt jedoch ein großer: Der Höhepunkt der Geschichte von „Hänsel und Gretel“ ist ja gerade die Spannung und Angst, ob Gretel es schafft, die Hexe in den Ofen zu schieben. Wenn nun Hänsel gar nicht mehr in Lebensgefahr ist, wird dem Märcheninhalt viel von seiner Funktion genommen: dass das Mädchen die Lösung für seine größten Ängste in sich selbst findet. Denn im Märchen ist Gretel die Heldin, die ihrem kleinen Bruder das Leben rettet und zudem durch ihre mutige Tat das Böse besiegt. Hänsel war zwar anfangs der Anführer, der die Kieselsteine und Brotkrumen legte und Gretel ließ sich von ihm führen, doch Gretel hat die Hexe überwunden und ist damit aus der Abhängigkeit von ihrem Bruder herausgetreten. Sie hat aufgehört, das Denken ihrem Bruder zu überlassen. Die Veränderung des Märchenstoffes in den Gebrauchsliederbüchern mindert nicht nur die Heldentat von Gretel, die ihrem Bruder das Leben rettet, sondern es findet somit auch keine Befreiung Gretels aus der Abhängigkeit von Hänsel statt. Man könnte fast meinen, dass diese Heldentat einem Mädchen allein nicht zugetraut wird.
V. Die anhaltende Verbreitung des Kinderliedes ist wohl nicht von der des Märchens zu trennen: Hänsel und Gretel gehört seit der Veröffentlichung in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (1812–15) zu den mit Abstand bekanntesten deutschen Märchen, das auch zu liedbezogenen Parodien reizte (Edition E). Daher ergibt sich im Hinblick auf das Lied (und als Spiel) eine bemerkenswerte Beobachtung: obwohl der Liedtext die Handlung des Märchens nur sehr verkürzt wiedergibt, hat man aufgrund der gegebenen Kenntnis des Märchens dessen Inhalt unmittelbar vor Augen.
RENATE SARR
(Juli 2007)
Weiterführende Literatur
- Walter Scherf: Hänsel und Gretel. In: Rolf Wilhelm Brednich (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 6, Berlin, New York 1990, Sp. 498–509.
- Hans-Josef Irmen: Hänsel und Gretel. Studien und Dokumente zu Engelbert Humperdincks Märchenoper, Mainz 1989.
- Hundert Jahre Hänsel und Gretel, Ausstellungskatalog. Frankfurt a.M. 1994, hrsg. von Ann Barbara Kersting, Frankfurt am Main 1994.
Quellenübersicht
- Ungedruckte Quellen: vergleichsweise wenige Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
- Gedruckte Quellen: häufig in Gebrauchsliederbüchern
- Bild-Quellen: Illustrationen in Kinderliederbüchern
- Tondokumente: einzelne Tonaufzeichnungen, selten auf Tonträger
Ausführliche Quellendokumentation
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Berlin) miteinbezogen.
© Deutsches Volksliedarchiv
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