Nun ruhen alle Wälder

Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
Was eurem Schöpfer wohlgefällt

Wo bist du, Sonne, blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht, des Tages Feind.
Fahr hin! Ein andre Sonne,
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Herzen scheint.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal;
Also werd ich auch stehen,
Wann mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammertal.

Der Leib eilt nun zur Ruhe,
Legt ab das Kleid und Schuhe,
Das Bild der Sterblichkeit;
Die zieh ich aus, dagegen
Wird Christus mir anlegen
Den Rock der Ehr und Herrlichkeit.

Das Haupt, die Füß und Hände
Sind froh, daß nun zum Ende
Die Arbeit kommen sei.
Herz, freu dich, du sollst werden
Vom Elend dieser Erden
Und von der Sünden Arbeit frei.

Nun geht, ihr matten Glieder,
Geht hin und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt.
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.

Mein Augen stehn verdrossen,
Im Nu sind sie geschlossen.
Wo bleibt denn Leib und Seel?
Nimm sie zu deinen Gnaden,
Sei gut für allem Schaden,
Du Aug und Wächter Israel‘.

Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So lass die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein.

Auch euch, ihr meine Lieben,
Soll heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr.
Gott laß euch selig schlafen,
Stell euch die güldnen Waffen
Ums Bett und seiner Engel Schar.

Text: Paul Gerhardt 1647 – (1607-1676)
Melodie: „O Welt, ich muß dich lassen“ 15. Jahrhundert / geistlich 1506 (Quelle EKG)

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Michael Fischer: Nun ruhen alle Wälder (2008). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/nun_ruhen_alle_waelder/

„Nun ruhen alle Wälder“ ist ein Lied des evangelischen Theologen Paul Gerhardt (1607–1676), das seit seiner Entstehung im 17. Jahrhundert auf eine erstaunliche Rezeption inner- und außerhalb des christlichen Gottesdienstes zurückblicken kann. Zur facettenreichen Wirkungsgeschichte gehört auch das „Abendlied“ von Matthias Claudius („Der Mond ist aufgegangen“), das als eine Fortschreibung und Aktualisierung des Paul-Gerhardt-Liedes aufgefasst werden kann. In der Moderne wurde „Nun ruhen alle Wälder“ auch als Naturschilderung und (säkulares) Abendlied verstanden.

I. Das Abendlied Gerhardts beginnt mit einer Naturszene, die möglicherweise auf Vergil („Äneis“) zurückgeht. Beschrieben wird die ruhende Welt, die Pflanzen, Tiere und die Menschen einschließt. Die äußere Ruhe leitet bereits in der ersten Strophe zur Selbstbesinnung über. In der zweiten bis siebten Strophe werden alltägliche Bilder entfaltet (etwa das Ablegen der Kleider, das Zu-Bett-gehen, das Schließen der Augen), die in der jeweils zweiten Strophenhälfte allegorisch bzw. anagogisch ausgelegt werden. Die Nacht und der Schlaf werden gemäß der antiken Weisheit „somnus est imago mortis“ („Der Schlaf ist ein Bild des Todes“; nach Cicero) gedeutet. Allerdings ist bei Paul Gerhardt damit die Hoffnung auf Auferstehung verknüpft. Die beiden letzten Liedstrophen bitten um den Beistand Jesu für seine „Küchlein“ (Küken), zunächst für den Liedsänger selbst, dann für dessen Angehörige.

II. Zuerst veröffentlicht wurde der Text von Paul Gerhardt in dem musikalischen Andachtsbuch „Praxis pietatis melica“ (Berlin 1647) des Berliner Kantors Johann Crüger (1598–1662). Dort ist dem Text die Weise von „O Welt, ich muss dich lassen“ beigegeben (Edition A). Neu vertont wurde „Nun ruhen alle Wälder“ im Rahmen der Gesamtausgabe der Gedichte Gerhardts (Berlin 1666/67), die der Kantor und Nachfolger Crügers an der Berliner Nikolaikirche Johann Georg Ebeling (1637–1676) in den Jahren 1666/67 herausgebracht hat (Edition B). Gegen die ursprüngliche Melodiezuweisung konnte sich jedoch Ebelings Vertonung nicht durchsetzen. Im Protestantismus verbreitete sich das Lied schnell und wurde seit den 1650er Jahren in unzählige Kirchengesangbücher aufgenommen.

III. Die Melodie zu „O Welt, ich muss dich lassen“ und damit zu „Nun ruhen alle Wälder“ hat eine komplizierte Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte: Die Melodie aus dem 16. Jahrhundert stellt eine Bearbeitung der Weise von „Innsbruck, ich muß dich lassen“ dar. Schon 1598 erschien diese Choralweise zu „O Welt ich muß dich lassen“ in einer melodisch veränderten Gestalt, später wurde sie zudem rhythmisch geglättet. Von diesen Änderungen war auch die Gesangsweise des Gerhardt-Textes betroffen. Mit der hymnologischen Restauration im 19. Jahrhundert wurde die ursprüngliche Fassung weitgehend wiederhergestellt. Zuweilen – wie im „Deutschen Evangelischen Gesangbuch“ – wurden auch beide Weisen abgedruckt (Edition G).

IV. Zum Abendlied von Gerhardt sind unzählige Textbearbeitungen entstanden. Dazu zählen auch solche, die das Abendmotiv mit dem Morgenmotiv vertauschen. So ist die Morgenlied-Bearbeitung von Johann Ulrich Riedner (1642–1718) in die Gesangbuchüberlieferung eingegangen (Edition C). Durch das vielfach aufgelegte Porstsche Gesangbuch blieb die Fassung von Riedner bis in das 19. Jahrhundert lebendig, obgleich damals solche Umdichtungen von der wissenschaftlichen Hymnologie abgelehnt wurden. Eine weitere Morgenlied-Bearbeitung hat im 17. Jahrhundert Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699) vorgenommen (Edition D).

V. Im Aufklärungszeitalter wurde das Lied öfters überarbeitet abgedruckt. Anstoß erregte damals bereits die erste Strophe mit der pauschalen Formulierung „Es schläft die ganze Welt“, die einer differenzierten Naturbeobachtung und einem vernünftigen Weltbild widersprach. Friedrich II. von Preußen war sogar der Auffassung, dass jeder glauben könne, was er wolle. Es stehe jedem frei „Nun ruhen alle Wälder, oder dergleichen thöricht und dummes Zeug“ zu singen, sofern er nicht die Toleranz vergesse (Erlass vom 18. Januar 1781). Auch ästhetische Bedürfnisse riefen Textkorrekturen hervor. Rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert ist dabei, dass diese von den Idealen der Aufklärung geprägten Bearbeitungen lange Zeit im Umlauf waren: So findet sich die Liedfassung aus dem Weimarer Gesangbuch des Jahres 1783 noch im Berliner Gesangbuch von 1829 (Edition E). Eine späte Bearbeitung, möglicherweise noch von den poetischen Verbesserungsbemühungen der Aufklärung beeinflusst, stellt diejenige von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766–1849) dar. Diese wurde noch im späteren 19. Jahrhundert in einer Anthologie mit religiöser Lyrik verbreitet (Edition F).

VI. Zur Rezeptionsgeschichte des Liedes gehört das „Abendlied“ („Der Mond ist aufgegangen“) von Matthias Claudius. Ursprünglich sollte es auf die gleiche Melodie („Nun ruhen alle Wälder“ bzw. „O Welt, ich muss dich lassen“) gesungen werden. Die bis heute weit verbreitete Weise von Johann Abraham Peter Schulz (1747–1800) ist davon abhängig.

VII. Auffällig ist, dass „Nun ruhen alle Wälder“ fast keine katholische Rezeption kennt. In den offiziellen katholischen Kirchengesangbüchern ist das Lied durchweg nicht enthalten. Erst in der für das spätere 20. Jahrhundert wichtigen Privatpublikation „Kirchenlied“ (Freiburg und Berlin 1938) wurde das Lied in einer vierstrophigen Fassung von den Herausgebern aufgenommen. Allerdings stieß dies nicht – wie bei zahllosen anderen Liedern aus dieser Sammlung – eine weitere Verbreitung an, weder in einzelnen Diözesangesangbüchern noch im Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ aus dem Jahr 1975. Ein offenkundiger theologischer Grund ist nicht auszumachen, möglicherweise waren eher ästhetische Bedenken für die Zurückhaltung ausschlaggebend.

VIII. Breit wurde „Nun ruhen alle Wälder“ auch außerhalb der evangelischen Kirchengesangbücher rezipiert. Grundlage hierfür war nicht nur Gerhardts dichterische Begabung, sondern sein Rückgriff auf die – poetologisch gesprochen – mittlere Stilebene, die allzu artifizielle Begriffe, Bilder und Formen vermeidet. Dabei verselbstständigte sich die achte Strophe zu einem verbreiteten Kindergebet („Breit aus die Flügel beide“). Darüber hinaus ließ sich – ausgehend von der ersten Strophe – das Lied in der Rezeption auch enttheologisieren: Es sprach eine moderne Frömmigkeit und Ästhetik an, die Gott, Natur und die Abendstimmung unter romantischen Vorzeichen zusammenbrachte. Um nur ein prominentes frühes Beispiel zu nennen: Im „Liederbuch des deutschen Volkes“ (Leipzig 1843) wird Gerhardts Gesang nach einem „Zigeuner-Morgenlied“ in die Rubrik „Zeit-, Natur- und Stimmungslieder“ eingeordnet. Im 20. Jahrhundert kann es sogar in die Sammlung „Vaterländisches Volkslied“ (Leipzig 1925) als „Abendgebet“ eingeordnet werden.

IX. Der Bekanntheitsgrad von „Nun ruhen alle Wälder“ war noch kurz vor der Jahrtausendwende relativ hoch. In einer (nicht repräsentativen) Internet-Umfrage aus dem Jahr 1998/99 gaben zwar über 53 % der Befragten an, das Lied nicht zu singen, aber es war immerhin knapp 70 % der Menschen bekannt. Für den Bekanntheitsgrad des Liedes im 20. Jahrhundert sprechen auch ironisierende Aneignungen, etwa Kinderverse aus dem Arbeitermilieu (Edition H). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Psychoanalytiker Tilman Moser in seinem Buch „Gottesvergiftung“ (1976) das Lied heftig kritisiert und die psychische Regression der Gerhardtschen Lieder angeprangert.

MICHAEL FISCHER
(Januar 2006 / Oktober 2008)

Literatur

  • Joachim Stalmann: „Nun ruhen alle Wälder“. In: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Bd. 3,II: Liederkunde. Hrsg. von Joachim Stalmann und Johannes Heinrich. Göttingen 1990, S. 468–471.
  • Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert: Hymnologische Vorbesinnung aus der Sicht eines Germanisten. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 22 (1978), S. 133–146 (S. 133–142 speziell zu „Nun ruhen alle Wälder“).
  • Esbjörn Belfrage: Morgen- und Abendlieder. Das Kunstgerechte und die Tradition. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 20 (1976), S. 91–134 (S. 115–126 speziell zu: „Nun ruhen alle Wälder“).

Editionen und Referenzwerke

  • Fischer/Tümpel 1911, Bd. 5, S. 345 (Nr. 386) (zum Text „Nun wachen alle Wälder“ von Johann Ulrich Riedner).
  • Fischer/Tümpel 1906, Bd. 3, S. 298 (Nr. 381).
  • Erk/Böhme 1894, Bd. 3, S. 698f. (Nr. 1993).
  • Zahn 1890, Bd. 2, S. 63–65 (Nr. 2293a–2294).
  • Fischer 1879, Bd. 2, S. 125–127.

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr häufig in evangelischen Kirchengesangbüchern, sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern, vereinzelt auf Flugschriften
  • Bild-Quellen: gelegentlich auf Liedpostkarten
  • Tondokumente: viele Tonträger

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Darüber hinaus wurden auch die Bestände des Gesangbucharchivs Mainz sowie (hinsichtlich der Tonträger) des Deutschen Musikarchivs Berlin miteinbezogen.

© Deutsches Volksliedarchiv

weitere Abendlieder