Wenn ich ein Vöglein wär

Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flügel hätt,
Flög ich zu dir.
Weil´s aber nicht kann sein,
Bleib ich allhier.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Bin ich gleich weit von dir,
Bin ich im Traum bei dir
Und red mit dir;
Wenn ich erwachen tu,
Bin ich allein.

Es vergeht kein Stund in der Nacht,
Da nicht mein Herz erwacht
Und an dich denkt,
Daß du mir viel tausendmal,
Dein Herz geschenkt.

Text: in: Johann Gottfried Herder (1744-1803) „Volkslieder“ 1778
Melodie: unbekannt, zum ersten Mal gedruckt 1784. Nach manchen Quellen vermutlich Johann Friedrich Reichardt um 1800 – (1752-1814).

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Tobias Widmaier: Wenn ich ein Vöglein wär (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/wenn_ich_ein_voeglein_waer/

Das seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ungebrochen populäre Liebeslied „Wenn ich ein Vöglein wär“ stammt ursprünglich wohl aus der Schweiz. Der bzw. die Urheber des Liedes sind unbekannt. Im 19. und 20. Jahrhundert ist „Wenn ich ein Vöglein wär“ breit rezipiert worden, wovon nicht zuletzt zahlreiche Varianten aus mündlicher Überlieferung, Parodien und künstlerische Adaptionen zeugen.

I. Das 1778 im ersten Band von Johann Gottfried Herders Sammlung „Volkslieder“ veröffentlichte „Wenn ich ein Vöglein wär“ gehört zu den meistgesungenen traditionellen Liedern des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis in die jüngste Vergangenheit ging man allgemein davon aus, dass der Liedtext in der von Herder mitgeteilten Form (Edition B) auf mündlicher Überlieferung beruhe. Tatsächlich jedoch handelt es sich um die Bearbeitung eines Motive barocker Lyrik aufweisenden Liebesliedes unbekannter Urheberschaft. Der bislang früheste datierbare Beleg dieser ursprünglichen Textfassung des Liedes (Edition A) ist in einer Liedflugschrift aus dem Jahr 1756 enthalten (erste Edition s. James 1987). Indizien deuten auf eine Schweizer Herkunft des Liedes (s. Anmerkungen zu Edition A u. Liedtitel Edition C).

II. Die vermutlich bereits einige Zeit vor 1756 entstandene Ausgangsversion des Liedes „Wenn ich ein Vöglein wär“ umfasst fünf Strophen. Sie offenbaren den Seelenzustand eines Menschen, dessen Gedanken beständig um den abwesenden Liebespartner kreisen. Als Illusion erweist sich der Wunsch, einem „Vögelein“ mit „zwey Flügelin“ gleich die unfreiwillige Trennung zu überwinden (Edition A, Str. 1). Das lyrische Ich des Liedes bekennt, auch des Nachts seufzend an die vermisste Geliebte (bzw. den vermissten Geliebten) zu denken (Str. 2), und verspricht, an der Beziehung treu festzuhalten, selbst wenn es „die Leuth verdrießt“ (Str. 4). Nach dem Eingeständnis „du mein Engels-Kind / hast mir mein Herz angezündt“ folgt abschließend der Schwur, eher sterben zu wollen als jenen Menschen zu verlassen, der so brennend begehrt wird (Str. 5). In der mittleren, dritten Strophe wendet das lyrische Ich sich an den Liebesgott Cupido – als nackter Knabe mit Bogen und Köcher ein häufiges Motiv in der Bildenden Kunst und Literatur des Barock – und bittet um Waffenbeistand „biß der bittere Tod / mich legt ins Grab“. Herder nahm „Wenn ich ein Vöglein wär“ in einer stark abweichenden Textfassung in seine Sammlung „Volkslieder“ (1778) auf. Die Bearbeitung stammt möglicherweise von Herder selbst. Übernommen wurden nur die ersten beiden Strophen des älteren Liedes, zwischen die sich eine neue zweite Strophe im passenden Ton eingeschoben findet (Edition B). In der Folge wurde dies die durch zahlreiche Liederbücher verbreitete Standardfassung des Liedes (z. B. Edition D), wobei dessen Rezeption als vermeintlich dem „Volksmund“ entstammender Schöpfung nicht nur auf den Wegfall der „Cupido“-Strophe zurückzuführen ist. Wesentlichen Anteil daran hatte auch die Melodie, nach der vermutlich bereits das ursprüngliche Lied gesungen wurde und die Herder als „leicht und sehnend“ charakterisierte. Zum ersten Mal mit Singweise veröffentlicht wurde „Wenn ich ein Vöglein wär“ im Klavierauszug von Johann Friedrich Reichardts Liederspiel „Lieb‘ und Treue“ (Berlin 1800), in dem das hier als „Schweizervolkslied“ bezeichnete Lied eine wichtige dramaturgische Rolle spielt (Edition C mit weiterführenden Anmerkungen).

III. Im 19. Jahrhundert erfuhr das Lied „Wenn ich ein Vöglein wär“ eine breite und vielschichtige Rezeption. Viele Gebrauchsliederbücher publizierten es in der dreistrophigen, in Herders „Volksliedern“ erschienenen Textfassung (die 1806 in die ebenfalls einflussreiche Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ übernommenen wurde), meist in Verbindung mit der heute allgemein bekannten, zuerst von Reichardt festgehaltenen Melodie (z. B. Edition D). In einer Zeit aber primär noch mündlicher Liedtradierung kursierte „Wenn ich ein Vöglein wär“ daneben in zahllosen, mehr oder weniger stark abweichenden textlichen und melodischen Varianten. Eine Reihe entsprechender Belege ist von damaligen Volksliedsammlern aufgezeichnet worden (vgl. etwa Franz Wilhelm von Ditfurths „Fränkische Volkslieder“ 1855; Edition G). Wie im Fall populärer Lieder vielfach zu beobachten, wurden auch von „Wenn ich ein Vöglein wär“ kindgerecht modifizierte, nicht selten frömmlerisch anmutende Umdichtungen speziell für die Verwendung im Schulunterricht (Edition E) sowie scherzhafte Parodien (Edition F) verfertigt. So häufig wie kaum ein anderes wurde das Lied schließlich von Schriftstellern und Komponisten aufgegriffen (s. Smeed 1999; Hirsch 2007). Neu vertont haben den („Wunderhorn“-)Text u. a. Carl Maria von Weber („Volklieder mit Begleitung des Pianoforte“ op. 54 Nr. 6, 1817), Robert Schumann („Drei zweistimmige Lieder mit Klavierbegleitung“ op. 43 Nr. 1, 1844; Duett in der Oper „Genoveva“ op. 81, 1851), Adolf Jensen („Lieder“ op. 1 Nr. 5, 1858) und Ferdinand Hiller („Lieder“ op. 111 Nr. 6, 1864). Auszumachen ist darüber hinaus eine Reihe instrumentaler Variationen, Fantasien u. ä. über „Wenn ich ein Vöglein wär“. Literarische Bezugnahmen auf das Lied finden sich etwa bei Heinrich Heine („Ich steh auf des Berges Spitze“, Gedicht LIII in „Lyrisches Intermezzo“, 1823) und in Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1826, Kap. 7).

IV. Vielschichtig bleibt die Rezeption des Liedes auch im 20. Jahrhundert. Die weiterhin große Bekanntheit und Beliebtheit von „Wenn ich ein Vöglein wär“ lässt sich an der kaum überschaubaren Zahl von Belegen in Gebrauchsliederbüchern ablesen oder auch an der Häufigkeit, mit der das Lied als Postkartenmotiv diente (Abb. 1) und für Schallplatte eingesungen wurde. Bis in die Gegenwart ist es zudem immer wieder parodiert worden (Edition H). Kompositorisch verarbeitet hat das Lied zuletzt André Previn im dritten Satz eines 1999–2001 entstandenen Violinkonzertes. Eine englische Fassung des Liedes („Were I a little bird“) erschien 1954 im „Fireside Book of Love Songs“ (Edition I).

TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Januar 2012)

Literatur

  • Marjorie W. Hirsch: Romantic Lieder and the Search for Lost Paradise. Cambridge 2007, S. 216–221 u. 283–285 (Abschnitt „Wenn ich ein Vöglein wär“: musical settings and literary allusions).
  • J. W. Smeed: Wenn ich ein Vöglein wär: from „Flugblatt“ to Opera. In: German Studies at the Millenium. Hrsg. von Neil Thomas. Durham 1999, S. 95–108.
  • Barbara James: „Wenn ich ein Vöglein wär…“. Neues zur Datierung des Liedes. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 32 (1987), S. 127f.
  • Walter Naumann: Das deutsche Volkslied „Wenn ich ein Vöglein wär’…“. In: The Journal of English and Germanic Philology 40 (1961), S. 193–212

Editionen und Referenzwerke

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: zahlreiche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: verschiedentlich auf Flugschriften, überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern, etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: sehr oft auf Liedpostkarten
  • Tondokumente: sehr viele Tonträger

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.

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