Wo mag denn nur mein Christian sein

Wo mag denn nur mein Christian sein,
In Hamburg oder Bremen?
Schau ich nur seine Stube an,
So denk ich an mein Christian.

In seiner Stube da hängt ein Holz,
Damit hat er gedroschen.
Schau ich mir diesen Flegel an,
So denk ich an mein Christian.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Auf unserm Hof, da steht ein Klotz,
Darauf hat er gesessen.
Schau ich mir diesen Holzklotz an,
So denk ich an mein Christian.

In unserm Stalle, da steht ’ne Kuh,
Die hat er oft gemolken.
Schau ich mir dieses Rindvieh an,
So denk ich an mein Christian.
oder:
In unserm Stalle, da steht ein Ochs,
Den hat er selbst gemolken,
Höre ich dieses Rindvieh schrei’n,
So fällt mir gleich mein Christian ein.

Der Esel, der den Milchkarrn zog,
Den hat er selbst geführet.
Höre ich diesen Esel schrei’n,
So fällt mir gleich mein Christian ein.

Text und Melodie: Norddeutschland oder Ostpreußen Anfang 19. Jahrhundert. Frühester Druck vor 1835. In den Liederbüchern gibt es leicht variierende Versionen.

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Tobias Widmaier: Wo mag denn wohl mein Christian sein (2011). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/wo_mag_denn_wohl_mein_christian_sein/

Das populäre, seit dem frühen 19. Jahrhundert belegte Lied „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ thematisiert den Umstand, dass Menschen, die ihren länger abwesenden Liebespartner vermissen, auch banalste Dinge als Quellen der Erinnerung an gemeinsame Zeiten erleben. Das Lied wurde zunächst vornehmlich mündlich tradiert, womit sich die um 1900 feststellbar große Varianz von Text und Melodie erklärt. Die heutige Standardfassung von „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ erschien 1934 im Liederbuch „Der Kilometerstein“.

I. Wann genau das Lied „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ entstanden ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. In Umlauf kam es spätestens in den 1820er Jahren. Ebenso unbekannt sind Herkunft und Urheber des Liedes. Möglicherweise handelte es sich ursprünglich um eine „Einlage in ein Singspiel oder eine Posse“ (Bolte 1927/28). Erstes Medium der Liedverbreitung waren Flugschriften (Edition A; Edition B). Das Lied erlangte offenbar rasch große Bekanntheit, wie Aufzeichnungen aus der mündlichen Singpraxis zeigen, die dem Volksliedforscher Ludwig Erk ab Ende der 1830er Jahre aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands zugesandt wurden (z. B. Edition C).

II. Die frühesten, zumindest ungefähr datierbaren Belege von „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ sind in zwei Liedflugschriften enthalten, von denen die eine zwischen 1818 und 1829 in Hamburg (Edition A), die andere nach 1826 in Dresden (Edition B) erschienen ist. Die jeweils zehnstrophigen Texte weisen deutliche inhaltliche Unterschiede auf; welcher der beiden der Erstfassung näher kommt, ist aufgrund der Quellenlage bislang nicht auszumachen. „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ ist die einem Bauernmädchen in den Mund gelegte Klage, ihr Liebster sei als Soldat drei Jahre schon fort. Die Gedanken der Liedprotagonistin kreisen beständig um seine Person, alltägliche Situationen und Gegenstände werden zu Auslösern von Erinnerungen. In der in Hamburg gedruckten Liedversion berichtet das Bauernmädchen mit einem gewissen Stolz einiges aus dem Soldatenleben ihres Christian (Edition A, Str. 2 u. 3), im Dresdener Druck dagegen offenbart sie, ihr sei „bang, er möcht nicht wieder kommen“ (Edition B, Str. 2); dass sie ihn „in Rußland oder Polen“ vermutet (Str. 1), stellt das Lied in einen historisch konkreten Bezugsrahmen, der in dieser frühen Überlieferungsphase noch überall verstanden wurde: 1812 hatten an Napoleons verlustreichem Russlandfeldzug auch viele deutsche Soldaten teilgenommen. Vermutlich ist das Lied kurz danach entstanden. Einen Ausnahmefall in der Liedüberlieferung bildet der Beleg der Hamburger Flugschrift mit der Nennung von „Spanien oder Portugal“ als Kriegsschauplatz (Edition A, Str. 1); durch das unpassende Reimpaar „Portugal / holen“ ist dies unschwer als bearbeitender Eingriff zu erkennen.

III. Trotz des Kummers, der die Protagonistin des Liedes „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ umtreibt, will sich Mitleid mit ihr gar nicht erst einstellen, denn der Liedtext schlägt rasch ins Belustigende um, wenn offenbar wird, wodurch sie im Einzelnen an ihren „allerliebsten Jungen“ erinnert wird (Edition B, Str. 4–8: Holzklotz, Dreschflegel, Lederhose, Kloßtopf, Esel). Dem scherzhaften Ton des Liedes sind einige Anzüglichkeiten beigemischt, die zu dessen Popularität sicher mit beitrugen: auf dem erinnerungsträchtigen „Klotz“ sei sie (so gibt das Bauernmädchen kund) vordem abends auf dem Schoß ihres Christian gesessen und habe sich „küssen und bedudeln“ lassen (vgl. auch Edition B, Str. 2: „Zieh ich mich aus, zieh ich mich an, / denk ich an meinen Christian“). Unklar ist, auf welche Melodie „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ zuerst gesungen wurde. Die von Ludwig Erk gesammelten Weisen sind recht unterschiedlich, z.T. besitzen sie tanzmusikalischen Rhythmus (s. Bolte 1927/28, Nr. 2 u. 3). Von einem Mitarbeiter erhielt Erk 1854 eine Aufzeichnung des Liedes aus Brandenburg mit dem ausdrücklichen Vermerk „Kirmistanz“ (Edition C), ein Hinweis zugleich auf den geselligen Kontext, in dem es in diesem Fall angestimmt wurde. Zudem ist hier jeder Strophe noch ein Kehrvers angehängt, der „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ den Charakter eines heiteren Trinkliedes gibt („Schenkt mir doch ‚mal Bairisch ein, / heute woll’n wir lustig sein; / Bairisch, Bairisch, Bairisch muß sein“).

IV. Das Lied „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ war das gesamte 19. Jahrhundert hindurch sehr populär. Um 1850 wurde es auch ins Niederländische übersetzt (Edition D). Carl Reder (1834–1880), ein Schöpfer und Interpret so genannter Wienerlieder, verfasste um 1870 mit „Die Dorothee, die liebe Frau“ ein Gegenstück des Liedes (Edition E), in dem die Rollen vertauscht sind („Und wenn ich jetzt das Rindvieh seh‘, / Denk ich an meine Dorothee“). Bemerkenswerterweise wurde „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ vornehmlich mündlich tradiert und nur relativ selten in Gebrauchsliederbüchern aufgenommen. Eine Erklärung dafür bietet das Standardwerk „Deutscher Liederhort“, in dem sich das Christian-Lied zwar findet, jedoch nur mit der ersten Strophe – die anderen ließ der Herausgeber Franz Magnus Böhme wegen ihres angeblich „läppischen Text[es]“ unberücksichtigt (Erk/Böhme 1893). Im Zuge der Volkslied-Sammelaktionen des frühen 20. Jahrhunderts wurde das Lied „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ in teilweise sehr unterschiedlicher Textgestalt sowie in verschiedenen Mundarten (z. B. Edition F; vgl. auch Becker 1917) und Melodieversionen (z. B. Edition G) aufgezeichnet.

V. 1934 hat Gustav Schulten in seinem wiederholt aufgelegten, primär Scherzlieder umfassenden Liederbuch „Der Kilometerstein“ das Lied schließlich in der Form veröffentlicht, nach der es in der Folge dann überwiegend gesungen wurde (und noch heute gesungen wird) (Edition H). Aufgegriffen findet sich hier einerseits eine Melodie, die für das Christian-Lied erstmals im frühen 20. Jahrhundert im Lipperland nachgewiesen werden kann (Edition F) – möglicherweise aber schon älter ist –, anderseits weist der Text im „Kilometerstein“ einige markante Änderungen gegenüber der traditionellen Fassung auf. So lautet der Liedbeginn hier nun „Wo mag denn nur mein Christian sein, / in Hamburg oder Bremen?“ (entsprechend 1919 erstmals mündlich belegt; vgl. DVA: A 109091). Zudem fallen durch Wiederholung der ersten zwei Strophenzeilen die bislang jeweils folgenden beiden unter den Tisch, was eine inhaltliche Redundanz und eine Eliminierung der erotischen Dimension des Liedes zur Folge hat. Es kann nun als Spottgesang auf einen Vertreter des männlichen Geschlechts aufgefasst werden, der implizit zu sein scheint, was an ihn erinnert: ein Flegel, Klotz und „Rindsvieh“. In Liederbüchern aus der Zeit des Dritten Reiches findet sich „Wo mag denn wohl mein Christian sein“ nur selten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich die „Kilometerstein“-Version des Liedes dann allerdings breit durch; maßgeblichen Anteil daran haben Liederbücher der Singebewegung wie „Bruder Singer“ (1951) und „Unser fröhlicher Gesell“ (1956) sowie „Die Mundorgel“ (1953ff.). Der Umstand, dass in der ersten Strophe von „Wo mag denn nur mein Christian sein“ die Hansestädte Hamburg und Bremen genannt werden, führte zu einer besonderen Verwurzelung des Liedes im norddeutschen Raum; für Tonträger ist es daher auch verschiedentlich in plattdeutscher Mundart eingesungen worden.

TOBIAS WIDMAIER
Quellenrecherche: JOHANNA ZIEMANN
(Februar 2011)

Literatur

  • Johannes Bolte: Wo mag den wohl mein Christian sein. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 10–16.
  • [Julius Becker]: Ein vergessenes plattdeutsches Volkslied [„Mäkens, ach bedurt doch mi“]. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 43 (1917), S. 54f. u. S. 136 (Notenbeilage).

Editionen und Referenzwerke

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: zahlreiche Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: häufig auf Flugschriften; bis 1950 gelegentlich, danach häufig in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: etliche Tonträger

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.

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