Zogen einst fünf wilde Schwäne

Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehen, ja.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehn.

Wuchsen einst fünf junge Birken
grün und frisch an Bachesrand
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand, ja.
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand.

Kinderlieder-CD zum Mitsingen

Kinderlieder – Album 1
Wiebke Hoogklimmer – Altstimme

Zogen einst fünf junge Burschen
stolz und kühn zum Kampf hinaus.
Sing, sing, was geschah?
Keiner mehr kehrt nach Haus, ja.
Sing, sing, was geschah?
Keiner mehr kehrt nach Haus.

Wuchsen einst fünf junge Mädchen
schlank und schön am Memelstrand.
Sing, sing, was geschah?
Keins den Brautkranz wand, ja.
Sing, sing, was geschah?
Keins den Brautkranz wand.

Text: West- und Ostpreußen Anfang des 20. Jahrhunderts, zuerst aufgezeichnet 1908 von Johannes Patock
Melodie: West- und Ostpreußen Anfang des 20. Jahrhunderts, erstmals 1915 veröffentlicht. Verbreitet wurde das Lied mit der Veröffentlichung im „Liederschrein“ 1918 von Karl Plenzat (1882-1945)

Ein ausführlicher Text zur Entstehungsgeschichte vom Forschungsprojekt des Deutschen Volksliedarchivs:
Frauke Schmitz-Gropengiesser: Zogen einst fünf wilde Schwäne (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon.
http://www.liederlexikon.de/lieder/zogen_einst_fuenf_wilde_schwaene/

Das Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisbar und wurde erstmals in Orten westlich und östlich der Danziger Bucht aufgezeichnet. Es handelt von den existentiellen Folgen des Krieges und wurde in den 1920er Jahren durch die Jugendbewegung in ganz Deutschland bekannt gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Lied weite Verbreitung, die bis in die Gegenwart anhält. Eine besondere Rolle spielt es unter den ehemals in West- und Ostpreußen lebenden Deutschen als Erinnerungsträger an die frühere Heimat und – seit den 1970er Jahren – innerhalb der Friedensbewegung als Antikriegslied.

I. Die erste bekannte Aufzeichnung von „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ stammt aus dem Jahr 1908 und wurde von dem Lehrer Johannes Patock in Kaschuben im Regierungsbezirk Danzig (Westpreußen) gesammelt (Edition A). Eine weitere frühe Quelle – mit Melodie – stammt aus Ostpreußen, wo sich das Lied im Repertoire eines Präzentors (Gottesdiensthelfers) aus Enzuhnen (Kreis Stallupönen, heute Oblast Kaliningrad) nachweisen lässt (Edition B). Demnach war es spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den deutschen Siedlungsgebieten rund um die Danziger Bucht bekannt. Die genannte ostpreußische Quelle wurde von Karl Plenzat (1882–1945) überliefert, der „deutsche, litauische und masurische Volkslieder aus Ostpreußen“ sammelte und diese 1918 in seinem Buch „Der Liederschrein“ veröffentlichte. Seinen Angaben zufolge sang ihm sein Vater, der Präzentor Friedrich Plenzat, dieses Lied vor. Er habe es aufgezeichnet und aus dem Litauischen ins Deutsche übersetzt (Edition B). Aufgrund Plenzats Aussage galt das Lied bislang stets als ein ursprünglich litauisches Lied. Erst die Nachforschungen der Volksliedforscherin Barbara Boock (2005) haben deutlich gemacht, dass Plenzats angebliche Übersetzung eines litauischen Liedtextes sich nur geringfügig von dem bereits 1908 in Westpreußen aufgezeichneten Text von Patock unterscheidet. Wie dieser zu seiner (unveröffentlichten) Liedsammlung anmerkt, hatte er das Lied als deutschsprachiges notiert. Ob es seinerzeit tatsächlich auch eine litauische Fassung dieses Liedes gab, ist ungeklärt: Bislang konnte noch keine nachgewiesen werden. Unbekannt ist auch, woher die von Plenzat dokumentierte Melodie zu diesem Lied stammt.

II. Der Inhalt von „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ deutet die einschneidenden Folgen des Krieges an: Die jungen Männer, die in den Krieg gezogen sind, kommen nicht mehr zurück, und die jungen Frauen können (deshalb) nicht den Brautkranz zur Hochzeit winden, sie bleiben ehelos. Die Schwäne stehen für den liebenden Mann bzw. den potentiellen Ehemann für die jungen Frauen. Die Schwäne fliegen weg und kommen nicht mehr zurück; die Birken blühen nicht im Frühling. Man erfährt nicht, wohin die Schwäne fliegen und warum sie nicht mehr zurückkommen und auch nicht, warum die Birken nicht blühen. Dies entspricht nicht den normalen Vorgängen in der Natur, hier geschieht etwas Unnatürliches. Entsprechend unnatürlich ist es, dass die Männer in den Krieg ziehen und nicht mehr zurückkommen und dass die jungen Frauen deshalb ehelos bleiben. Der Krieg ist demnach widernatürlich, er ist von Menschen gemacht. Die unmittelbare Verbindung zwischen den Schwänen und den jungen Burschen, die wegfliegen bzw. -gehen, sowie den Birken und den jungen Mädchen, die nicht zur Blüte kommen, wird dadurch hergestellt, dass die Strophen sehr ähnlich aufgebaut sind und prägnante Worte aus den ersten beiden Strophen in der dritten und vierten Strophe wiederholt werden.

III. Über die frühe Geschichte des Liedes – seine Herkunft, Bedeutung und Funktion im ost- und westpreußischen Raum – ist bislang nichts Näheres bekannt. Ausgangspunkt seiner überregionalen Verbreitung waren die Veröffentlichungen von Karl Plenzat um 1917 (Edition B). Die Jugendbewegung griff das Lied unmittelbar auf: Mit seiner Natursymbolik, dem antibürgerlichen Freiheitsgestus („wilde Schwäne“) und dem Kriegstrauma als Liedinhalt traf es genau die Stimmungslage und Erfahrungswelt dieser jungen Menschen nach dem Ersten Weltkrieg. War man zu Beginn noch siegesgewiss und mit Abenteuerlust in den Krieg gezogen, machte sich doch recht bald tiefe Ernüchterung breit. Denn der Krieg war kein schnell errungener Triumph, er brachte vielmehr Leid, Tod und Verlust mit sich – alles Erfahrungen, die der Text von „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ in prägnanter Form thematisiert. Durch die Jugendbewegung erfuhr das Lied eine ausgesprochen breite Rezeption. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde es vielfach in Liederbüchern der Bündischen Jugend, in Wanderliederbüchern für Jugendliche und Pfadfinder oder in Turnerliederbüchern veröffentlicht (Edition C). Noch in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft war es bis 1935 auch in Liederbüchern der „Hitlerjugend“ (HJ) oder des „Bund deutscher Mädel“ (BDM) vertreten, danach wurde es aber nahezu vollständig aus dem gedruckten Liedrepertoire eliminiert. Dieses dem Militarismus so abholde Lied war für den NS-Staat absolut untauglich.

IV. Umso stärker war die Resonanz nach dem Zweiten Weltkrieg, als dieses fast lakonische Lied über den Krieg und seine Folgen erneut den Nerv der Zeit traf. Dementsprechend setzte Ende der 1940er Jahre wieder eine starke Verbreitung ein, die nun aber weit über die Kreise der Jugendbewegung hinausreichte und bis heute andauert. Man findet „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ in Volks- und Wanderliederbüchern ebenso wie in Kinder-, Schul- oder konfessionellen Liederbüchern. Hinzu kommt die spezifische Rolle, die das Lied nach 1945 unter den aus Ost- und Westpreußen vertriebenen Deutschen erlangte. Hier zählt „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ zum Standardrepertoire der entsprechenden Liederbücher. War es schon 1926 im „Liederbuch für Ostpreußen“ vertreten, so wurde nach dem Krieg die Erinnerung an die ehemalige Heimat auch mittels Liedern – etwa in „Singendes Ostpreußen“ (1949), „Singende Heimat“ (1958/59) oder „Mein Heimatland. Lieder der Ost- und Westpreußen“ (1976) – weiter gepflegt (Edition D). Das Lied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ gilt in diesem Kontext als untrennbar mit den ehemaligen Siedlungsgebieten im Osten verbunden, weshalb der Liedincipit gelegentlich auch in Buchtiteln Verwendung findet: Etwa beim Liederbuch „Der wilde Schwan. Lieder aus dem Nordostdeutschen Kulturraum“ (1990) – womit hier der Bereich von Pommern bis zum Baltikum gemeint ist – oder bei der Neuveröffentlichung des Romans „Urte Kalwis“ (1917) von Clara Ratzka im Jahre 1978. Dieser Roman spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in der Landschaft von Memelmündung und Haff. Bei der Neuausgabe gab der Verlag das Buch im „Einvernehmen mit dem Enkel der Dichterin“ unter dem Titel „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ (Leer: Rautenberg 1978) heraus. Das allgemein bekannte Lied wird somit als spezifischer Erinnerungsträger funktionalisiert – der ehemals in Ostpreußen beheimatete Verlag „sieht seine alte Tradition als Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten an die deutschen Ostgebiete“ –, auch wenn das Lied selbst in Ratzkas „Urte Kalwis“-Roman gar nicht vorkommt.

V. Im Zuge der Friedensbewegung Ende der 1970er Jahre wurde „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ verstärkt in den Kreisen der Folkbewegung als Antikriegslied aufgegriffen. In der Tradition der US-Folkmusic-Szene und ihres Protestes gegen den Vietnamkrieg unterstrich die Friedensbewegung ihren Widerstand gegen den Nato-Doppelbeschluss (1979) und die Stationierung von Atomsprengköpfen in Deutschland mit entsprechenden Liedern. In diesem Kontext findet sich auch „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ als „Antikriegslied aus Litauen“ („Unsere Lieder. Lieder aus Hessen“, 1980) sowie in programmatischen Liederbüchern wie „Laßt uns Frieden schaffen ohne Waffen“ (Hrsg. Manfred Bonson, 1983) und „Antimilitaristisches Liederbuch“ (Hrsg. Norbert Gerbig, 1981). Hin und wieder wurde auch ein anderer Text dazu gedichtet (Edition E). Seit dieser Zeit wird das Lied von den „wilden Schwänen“ gelegentlich auch in Verbindung gebracht zu „Where have all the flowers gone“ von Pete Seeger. Demgegenüber ist festzuhalten, dass beide Lieder – trotz motivischer Nähe – liedgeschichtlich nichts miteinander zu tun haben. Wie stark das Schwäne-Lied mit dem Thema Krieg assoziiert wird, verdeutlicht noch ein weiterer Buchtitel, der seinen Incipit verwendet: „Zogen einst fünf wilde Schwäne. Roman einer Jugend“ von Eva Wolf (Berlin 1988); hier geht es um Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums, die im Herbst 1944 an die Ostfront bzw. an die „Heimatfront“ müssen.

FRAUKE SCHMITZ-GROPENGIESSER
(Mai 2010)

Literatur

  • Barbara Boock: Die Sammlung Patock im Deutschen Volksliedarchiv. Eine kleine Sammlung deutscher Volkslieder 1908 bei Kaschuben gesammelt. In: Heike Müns (Hrsg.), Musik und Migration in Ostmitteleuropa. München: Oldenbourg 2005, S. 319–331.

Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr häufig in Gebrauchsliederbüchern, etliche sonstige Rezeptionsbelege
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: viele Tonträger

Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Berlin) miteinbezogen.

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